München – Ausgerechnet an diesem Aschermittwoch, dem Beginn der Fasten- und Bußzeit, ist ein brisanter Untersuchungsauftrag vom Erzbistum München und Freising ergangen: Die Rechtsanwaltskanzlei Westphal, Spilker, Wastl soll die Missbrauchsfälle im Bereich des Erzbistums von 1945 bis 2019 neu aufarbeiten – und zwar mit besonderem Blick auf die Frage „nach dem angemessenen Umgang mit Hinweisen auf sexuelle Übergriffe und körperliche Gewalt“. Und: Es sollen Verantwortlichkeiten benannt werden.
Das teilte gestern das Erzbischöfliche Ordinariat München mit und folgt damit der seit zehn Jahren immer wieder erhobenen Forderung nach Nennung der Personen in der Bistumsleitung, die Missbrauchsfälle in der Vergangenheit vertuscht haben, nicht an Strafverfolgungsbehörden gemeldet und kirchenrechtliche Schritte unterlassen haben. Wer hat welche Regeln nicht eingehalten, wer hat was unterlassen – diese Fragen sind offen, seit 2010 ein erster Untersuchungsbericht der Kanzlei Westphal, Spilker, Wastl über die Täter von 1945 bis 2010 erstellt wurde. Der Bericht wurde nur in Auszügen veröffentlicht und verschwand in Gänze mit Hinweis auf den Datenschutz im Giftschrank des Erzbistums.
Mit der neuen Spitze der kirchlichen Verwaltung – Generalvikar Christoph Klingan und der Amtschefin Stephanie Herrmann – soll nun die Transparenz nachgeliefert werden. „Es wird bei diesem Auftrag nicht nur darum gehen, über die Fälle zu berichten, sondern auch darum, Verantwortlichkeiten darzulegen, sofern sie nachweisbar sind“, sagte Generalvikar Klingan. Wenn dabei eventuelle „Versäumnisse von einzelnen Verantwortlichen auf der Hand liegen durch die Aktenlage, dann wird das auch ins Wort gebracht werden“, formulierte es Klingan angesichts der möglichen Folgen etwas kryptisch.
Denn die Ankündigung birgt kirchenpolitische Brisanz: Weil es prominente Vorgänger des jetzigen Erzbischofs Reinhard Marx in den Blick nimmt – allen voran Kardinal Joseph Ratzinger, den späteren Papst Benedikt XVI., der inzwischen als Papst emeritus in einem Kloster im Vatikan – mehr oder weniger – zurückgezogen lebt. Dass diese Untersuchung Sprengstoff birgt, dürfte der Ordinariatsleitung bewusst sein. Sollte durch Akten zu belegen sein, dass Joseph Ratzinger in seiner Amtszeit als Münchner Erzbischof oder späterer Präfekt der Glaubenskongregation doch über den Missbrauchsfall Peter H. (wir haben berichtet) informiert gewesen war und die erforderlichen (kirchen-)juristischen Schritte nicht eingeleitet habe, würde Benedikt XVI. in große Erklärungsnot geraten. Hatte er doch erst jüngst vehement durch seinen Sekretär Georg Gänswein dementieren lassen, sich mit Peter H. getroffen zu haben.
H. soll in Bottrop, Essen, Grafing und Garching an der Alz mindestens 28 Jungen sexuell missbraucht haben. 2008 hatte Kardinal Marx ihn in Bad Tölz als Kurseelsorger eingesetzt. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft München II Vorermittlungen aufgenommen wegen eines Anfangsverdachts von Straftaten nach 2008. Auch in die Amtszeit des früheren Kardinals Friedrich Wetter (92), der von 1982 bis 2008 Münchner Erzbischof war und der inzwischen im Altenheim lebt, fällt der Missbrauchsfall H. Weder mit Benedikt XVI. noch mit Kardinal Wetter soll im Vorfeld der Planungen zu dem neuen Gutachten gesprochen worden sein. Generalvikar Klingan versicherte: „Wir haben das mit dem amtierenden Erzbischof abgesprochen, dass es diese Untersuchung geben soll. Wir haben nicht mit Vorgängern darüber gesprochen.“ Es solle der gesamte Zeitraum von 1945 bis 2019 untersucht werden – „und das betrifft dann auch alle Erzbischöfe, alle Verantwortungsträger in diesem Zeitraum – ohne Unterschied“.
Auf eine transparente Aufklärung, die möglicherweise dazu führt, dass Pfarrer H. aus dem Klerikerstand entfernt wird, hofft auch der 49-jährige Markus B. (Name geändert) aus dem Kreis Ebersberg. Er hatte als Bub Religionsunterricht bei Pfarrer H. Markus und zwei seiner Freunde wurden 1980 von Peter H. zum Kartenspielen in dessen Wohnung in Grafing eingeladen. Seine Mutter erinnert sich gegenüber unserer Zeitung: „Wir haben das damals nett gefunden.“ Um 17 Uhr habe ihr Sohn angerufen und gesagt, die Freunde seien gegangen, der Pfarrer wolle, dass er über Nacht bleibe. „Willst du das?“, hat die Mutter gefragt. Nein, Markus wollte abgeholt werden.
Erst Jahre später erfährt die Mutter, was passiert ist. Peter H. spielte mit Markus ein Malspiel, zeichnete Geschlechtsorgane, so berichtete der Sohn. Er soll ihn auf den Kopf geküsst haben. „Noch heute läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich darüber nachdenke, was hätte passieren können“, sagt die Mutter. Damals hatten sie auf eine Anzeige verzichtet, weil schon ein Strafverfahren lief.
Jetzt aber will Markus B. den Fall dem Ordinariat melden – „damit es doch noch Gerechtigkeit gibt“.