Mittenwald – Sollte man zufälligerweise eine Geige aus Mittenwald besitzen und sollte man diese zufälligerweise mal zur Reparatur öffnen müssen, dann könnte es sein, dass man in der dunklen Ecke oben links versteckt eine kleine Botschaft findet. Einen Satz, mit Bleistift geschrieben, zum Beispiel: „Wir haben einen bayerischen Papst.“ Oder „Mein Sohn ist geboren.“ Oder: „Heute ist Nikolaustag.“ Ist dem so, dann kann man sich ziemlich sicher sein: Diese Geige hat Anton Sprenger gebaut. Einen „Bleistiftgruß“ nennt er das. Manchmal macht er das, nur so, und nicht immer, nicht bei jeder Geige. „Weil ich mich da nicht unter Druck setzen will“, sagt der 50-Jährige. „Ich muss ja im Prinzip nix reinschreiben.“
Das mit dem nicht Müssen, das ist ihm wichtig. Anton Sprenger musste kein Geigenbauer werden, er hätte machen können, was immer er wollte – als Nachzügler in einer riesigen Großfamilie hat man diese Freiheit.
Interessen und Talente hat Anton Sprenger viele, fast wäre er zum Beispiel Maler geworden. Irgendwie muss es dann aber in seinen Genen gejuckt haben. Denn Sprenger ist ein Spross der berühmtesten Mittenwalder Geigenbauerfamilie; sein Urahn ist Mathias Klotz (siehe Kasten). Doch das hat er erst vor ein paar Jahren erfahren.
Zum Geigenbau ist er also ganz von allein gekommen. Vielleicht ist er dafür einfach geboren. Tatsächlich sieht er auch genau so aus, wie man sich den bayerischen Muster-Geigenbauer aus Mittenwald in einer kitschigen TV-Romanze vorstellen würde: grünkariertes Hemd, dunkle Arbeitsschürze, kräftige Hände, Dreitagebart, rote Bäckchen, verschmitztes Lächeln und dazu ein wenig Dialekt, aber immer noch verständlich, auch für den Touristen aus dem hohen Norden.
Und dann diese Kulisse, diese kleine sonnendurchflutete Werkstatt in diesem uralten verwinkelten Haus in diesem Bilderbuch-Bergdorf Mittenwald im Landkreis Garmisch-Partenkirchen. Durch das Fenster blickt man auf hübsch herausgeputzte Gässchen, im Hintergrund ragen verschneite Berggipfel hervor. Aus dem Radio erklingt klassische Musik, vor dem Fenster erstreckt sich eine lange Werkbank mit verschiedensten Stecheisen, Stemmeisen, Biegeeisen, Halseisen, Schnitzmessern, Sägen, Feilen, winzig kleinen Hobeln, jeder Menge Schmirgelpapier, zig Pinseln und Gläschen und Töpfchen voller bunter Pulver und Körner; an der Wand hängen Schwarz-Weiß-Fotos von Ahnen und Urahnen, einige Gemälde und natürlich: Geigen.
In diesem geordneten Durcheinander sitzt er also, dieser Vorzeige-Bayer, betrachtet versonnen sein neuestes Werk, eine Geige aus Zirbenholz, und beginnt zu erklären. Zum Beispiel, dass so eine Geige ein kleines Wunder ist; denn wenn man sie theoretisch auf dem Papier von einem Statiker durchrechnen lässt, dann müsste sie nach den Regeln der Mathematik eigentlich zusammenbrechen. „Tut sie aber nicht“, sagt Anton Sprenger zufrieden.
Das gefällt ihm: Dass die Geige macht, was sie will. Denn Anton Sprenger macht ja auch, was er will. Dazu gehört: sich mit so vielen Dingen wie nur irgendwie möglich auseinandersetzen. Er ist fasziniert von allem, was es auf der Welt gibt. Von Traditionen, Mundart, der Natur, den Bergen, von seinen Vorfahren; aber auch von der Weltgeschichte, von fremden Ländern, anderen Kulturen, von Kunstgeschichte, der Malerei, von der Musik – und von Instrumenten eben. Er baut nicht einfach nur seit Jahrzehnten Geigen, so wie er das auf der Geigenbauerschule gelernt hat, nein, er macht sich Gedanken über jeden einzelnen Arbeitsschritt, über alles, was er in die Hand nimmt, über jedes einzelne Werkzeug, jede einzelne Bewegung, jedes einzelne Material.
Zum Beispiel das Holz. Alles hat Anton Sprenger ausprobiert, frisches Holz aus dem Wald, uraltes Holz aus der Abtei Partenkirchen. Jetzt sucht er sich seine Stämme beim Profi aus, beim Tonholzhändler, am liebsten Fichte und geflammten Bergahorn. Die Zirbe ist eine Ausnahme, ein kleines Experiment. Außerdem muss sein Holz relativ jung sein, nicht zu lange abgelagert: „Ich glaube, es könnte sein, dass jüngeres Holz besser ist. Denn dann hat das Holz die Möglichkeit, noch am Instrument zu reifen.“
Für alles hat Anton Sprenger eine Erklärung, über alles hat er sich Gedanken gemacht. Er weiß, warum er die Baumstämme spaltet und niemals sägt; warum er tierischen Leim benutzt und nur mit Naturmaterialien lackiert, mit Bernstein und Mastix, Krappwurzel und Flammruß, Elfenbeinschwarz und Indischgelb, mit Benzoe und Schellack: „Das ist Nachhaltigkeit.“
All das weiß Sprenger natürlich nicht einfach so. Es sind die Ergebnisse von jahrelangem Überlegen und Ausprobieren. „Mein Anspruch ist eben gewachsen mit der Zeit“, sagt er und zuckt mit den Schultern. „Aber ich überlege mir ja auch jeden Tag: Wie kann ich das Beste daraus machen?“
So verbringt er natürlich viel Zeit in der Werkstatt; doch seine Frau hat dafür Verständnis. Vor Jahrzehnten hat er „weggeheiratet“, nach Waldau, zehn Kilometer entfernt. Zusammen haben sie dort Sohn und Tochter großgezogen: „Ich hatte immer Zeit für meine Kinder“, sagt Sprenger stolz. Trotz der großen Hingabe in der Werkstatt. An einer einzigen Geige sitzt Sprenger mindestens 200 Stunden. Ihr Verkaufspreis liegt bei 2000 bis 10 000 Euro, das ergibt keinen hohen Stundenlohn. Und das bei so viel Engagement? „Mei, die Liebe, die man da rein packt, die kann man vielleicht nicht messen – aber ich glaube schon, dass man damit ein besseres Ergebnis hat, als wenn man nur sagt: ich mach das, um Geld zu verdienen.“
Ein Ergebnis, mit dem offenbar auch die Käufer von Sprengers Instrumenten zufrieden sind, und zwar auf der ganzen Welt: Er hat nicht nur Fans in Deutschland, sondern auch in Taiwan, in der Mongolei, in Südafrika, in den USA und in Irland; da wird seine Geige sogar in einem echten Pub gespielt, erzählt Sprenger stolz: „Das ist doch toll!“
Aber was macht so eine Sprenger-Geige denn nun aus? Experten würden sagen: Sie ist obertonreich und tragfähig. Oder, so drückt Anon Sprenger es aus: „Meine Geigen klingen dunkel und saftig, wie reife Trauben, die sehr viel Sonne gesehen haben.“ Er steht jetzt mitten in seinem schicken Verkaufsraum, umgeben von all seinen Geigen, immer noch in der Arbeitsschürze, und nimmt eine in die Hand und spielt. Auch das kann er. Er spielt regelmäßig in einem Streichquartett und in einer Bluegrass-Band. Bluegrass, das ist US-amerikanische Volksmusik mit starkem Country-Einschlag. Die Geige erklingt, zart sanft, kräftig und rau. Schließlich setzt Anton Sprenger sie wieder ab und zuckt mit den Schultern. „Eine solche Geige ist einfach ein kleines Wunder.“