Anja Vogler-Matauschek lebt mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Sauerlach (Kreis München). Für unsere Zeitung schreibt die 47-jährige Sozialpädagogin ein Tagebuch über das Familienleben mit Ehemann und drei Söhnen (18, 16 und 13 Jahre) in Zeiten von Corona und Schulschließungen.
Dienstag, 21. April
Nachdem wir das halbe Haus umgekrempelt haben, ist klar geworden: Es fehlen ein paar Dinge. Der Moment, um meine Idee einer „Roomtour“ zu unterbreiten – wir pilgern von Raum zu Raum, jeder bereitet etwas zu essen vor, und wir besuchen uns gegenseitig. Klingt in den Ohren der Junioren eher uninteressant – wohl auch, weil vorher aufgeräumt werden sollte. Mein Mann greift mir unter die Arme: „Thema könnte sein: Vision meines Zimmers.“ Schon besser. Die richtige Zeit, um das letzte Kinderzimmer endlich auch in ein Jugendzimmer zu verwandeln. Küche, Rumpelkammer, Garten – am Ende ist die Liste recht lang geworden, also ab in den wieder geöffneten Baumarkt.
Durch den Sicherheitsbeauftragten am Eingang, der mit Argusaugen darüber wacht, ob wir einen Wagen mitführen, fühlen wir eine gewisse Seriosität. Ehrfürchtig betreten wir den Pflanzentempel, als würden wir einer Kathedrale einen Besuch abstatten. Wir decken uns mit Erde und Pflanzen ein, schon lange wartet der Garten auf unsere Zuwendung. Die Möbel? Müssen noch warten.
Mittwoch, 22. April
Nachdem bekannt geworden ist, dass ab nächster Woche Mundschutzpflicht herrscht, haben wir das Gefühl: Jetzt wird es wieder ernst. Unser Ältester und ich bereiten uns auf den Wiedereinstieg vor, und es fühlt sich an, wie die Landung auf der Erde nach einer Marsmission. Wie soll das daheim weiterlaufen?
In den Ferien waren die Lehrkräfte scheinbar sehr fleißig und versorgen den Nachwuchs gefühlt stündlich mit allerlei Arbeitsmaterialien. Die Burschen stöhnen. Dazu kommt die Ungewissheit: was ist jetzt mit den Schulaufgaben? Fallen sie aus? Was wird noch gewertet? Wird es für dieses Schuljahr überhaupt noch Noten geben? Und wann wird es wieder Unterricht an der Schule geben?
Donnerstag, 23. April
Durch erhöhtes Verkehrsaufkommen in der Küche kommt es zu Engpässen, soll heißen: spontan gehen Zutaten aus. Das in kurzen Abständen wiederholte Backen von Bananenbrot hat dazu geführt, dass überraschenderweise das Backpulver fehlt. Natürlich muss innerhalb von zehn Sekunden ein Ersatz her und kurzerhand greife ich zu einer Packung Natron. Von den fantastischen Eigenschaften für Lösungen von nahezu sämtlichen globalen Problemen, erscheint mir die Herstellung von Brausepulver so kurz vor dem Mittagessen als attraktiv. Schmeckt sogar.
Freitag, 24. April
Seit Wochen verarbeitet mein Mann nebenbei unsere digitale Vergangenheit von hunderten Fotos und Filmchen. Ab und zu schickt er uns ein paar Kostproben, was uns wahlweise zu Seufzern oder Kichern verleiten lässt. Auf jeden Fall wächst der Wunsch auf einen „Kinder-Kino-Abend“. Der Grad an Gemütlichkeit ist nicht zu toppen, als alle versorgt mit Getränk und Snack erwartungsvoll auf der Couch hocken. Film ab! Es geht dahin durch die Jahreszeiten, die Ausflüge, die Urlaube, die Feste. Uns begegnen selbstgeschnittene Frisuren und Zahnlücken, aufgeschürfte Knie und Klebe-Tattoos auf Unterarmen, Gummiarmbänder und Fidgetspinner und viele weitere stille Zeitzeugen. Und immer sind wir von irgendwoher nach irgendwohin unterwegs. Ich denke: was für ein Unterschied zum jetzigen Leben. Trotzdem geht es uns gut – und ich denke an die vielen Familien, die sehr beengt wohnen. Nachdenklich und dankbar beschließen wir diesen Abend.
Samstag, 25. April
Der US-amerikanische Rapper Travis Scott veröffentlicht heute sein Lied in dem bekannten Online-Spiel Fortnite. Das Ereignis scheint dem der Jahrtausendwende gleichzukommen, jedenfalls wirbeln die Söhne durch Küche und Wohnzimmer und kreieren ein Buffet, dass sich die Balken biegen. Wir sind beeindruckt. Wir merken wieder, dass wir die Generation 40plus und daher nur Teilnehmer statt Fans sind. Die Jungs nehmen gemeinsam mit rund zwölf Millionen Spielern weltweit die neuen Klänge und die, zugegeben sehr imponierende visuelle Darstellung, fasziniert auf. Wir wissen immerhin, was in den nächsten Wochen durch unser Haus schallen wird.
Sonntag, 26. April
Unser letzter freier Tag, bevor ich wieder zur Arbeit und unser Abiturient in die Schule zurückkehrt. Wir sprechen über die letzten Wochen. Was hat uns die viele Zeit daheim gebracht? Was war schön, was nervig? Die vorläufige Bilanz: meine Hände sind rau wie Sandpapier vom vielen Händewaschen, ein Schreibtischstuhl ist durchgesessen und die Jungs haben sich mindestens das Küchen-Seepferdchen in Silber verdient. Aber erfahren haben wir auch, dass wir als Eltern oft nur ein leidiger Ersatz sind für fehlende Freunde und es ein gutes Gespür braucht, wenn Zeit für mehr Abstand notwendig wird.
Zwei von fünf können zurück in ihren Alltag, für die andern muss es daheim weiterlaufen. Es wird gut sein, sich zu entzerren, hinaus zu gehen, um anzukommen, heimzukehren, etwas berichten zu können. Die letzten Wochen waren eine intensive Zeit – und darauf stoßen wir an. Auf dem Etikett der Flasche steht „Gemeinsam geschafft!“. Ich muss an den Münchner Musiker KENO denken, der singt: „Was ist Deine Geschichte? Was hast Du erlebt? Was zählt? Was möchtest Du ändern? Was hat Dich wirklich bewegt? Wie’s auch gewesen, was auch geworden ist, das Ergebnis sind wir – hier.“ Damit endet mein Corona-Tagebuch. Uns allen alles Gute!