Isen/Kassel – Willi Busch hatte vor dem 21. Mai 1970 schon einige Tassen Kaffee serviert. Aber selten hat sein Herz dabei so geklopft wie an diesem Tag, als er vor der Hotelzimmertür von Willi Stoph stand und auf das „Herein“ wartete. Der Vorsitzende des Ministerrats der DDR war damals Gast im Schlosshotel Wilhelmshöhe in Kassel, wo Busch gerade seine Ausbildung machte. Stoph traf sich mit dem damaligen Kanzler Willy Brandt zum deutsch-deutschen Gipfeltreffen der beiden Regierungschefs. Und in einer Verhandlungspause bestellte er sich eine Tasse Kaffee auf sein Zimmer. „Ich war damals wirklich sehr aufgeregt“, erinnert sich Busch heute. Obwohl er als Lehrling im besten Hotel Kassels natürlich schon häufiger Prominenten begegnet war. Dem Showmaster Lou van Burg oder den Jacob-Sisters zum Beispiel. Aber eben noch nie Spitzenpolitikern.
Er hat die Tasse Kaffee damals Lehrbuch-reif und ohne Zittern serviert. „Stoph war sehr höflich“, erzählt er. Das Gespräch beschränkte sich allerdings auf ein „Bitte“, „Danke“ und „Auf Wiedersehen“. Die Aufregung war damit natürlich nicht vorbei. Während des ganzen Gipfels herrschte im Hotel Ausnahmezustand, erinnert er sich. Die Sicherheitskräfte überließen damals nichts dem Zufall. Alle Angestellten mussten Fragebögen ausfüllen und wurden überprüft. Alle Hotel-Mitarbeiter, die Verwandte in der DDR hatten, durften während des Gipfels nicht arbeiten. „Man hatte Angst, dass jemand eine Rechnung mit dem DDR-Regime offen haben könnte“, sagt Busch. Er profitierte davon – so durfte er Aufgaben übernehmen, die man sonst wohl nicht einem Auszubildenden anvertraut hätte.
Was es während des Gipfels zu essen gab, weiß Willi Busch noch ganz genau: Stangenspargel in Sauce Vinaigrette mit Neuenahrer Rindfleisch als Vorspeise, danach eine klare Hühnerbrühe, als Hauptgang gespickten Rehrücken mit Rahmtunke, Pfifferlingen, Staudensellerie und Spätzle. Und zum Dessert frische Erdbeeren mit Schlagsahne. Willi Busch hat ein gutes Gedächtnis – aber dass er sich noch so genau ans Menü erinnert, verdankt er auch der Speisekarte, die er seit 50 Jahren zu Hause aufbewahrt. Zusammen mit dem Ausweis, den er damals am Hemd tragen musste. „Das lag immer in einer Schublade“, erzählt er. Jetzt, wo er wie die meisten Menschen mehr Zeit als gewöhnlich zu Hause verbringt, ist sie ihm mal wieder in die Finger geraten. Und mit ihr kamen die Erinnerungen an seinen wohl spannendsten Arbeitstag zurück.
Mittlerweile lebt Willi Busch in Isen im Landkreis Erding, er ist schon vor vielen Jahren aus seiner Heimat Hofgeismar dorthin gezogen. Doch zu einigen der Kollegen von damals hat er immer noch Kontakt. „Wir waren ein eingeschworenes Team“, erzählt er. Schon vor dem deutsch-deutschen Gipfeltreffen – danach sogar noch ein bisschen mehr.