Der Freistaat als Fleckerlteppich

von Redaktion

Mit den jüngsten Lockerungen richtet sich der Fokus stärker auf das Geschehen in den Landkreisen. Die sind sehr unterschiedlich vom Coronavirus betroffen. Was überrascht: In Ballungsgebieten herrscht keine höhere Ansteckung. Im Gegenteil.

VON MARC BEYER

München – Jeden Morgen um zehn zeigt der Freistaat seine dunklen Seiten. Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) stellt die aktuellen Corona-Daten vor. Fallzahlen und Todesopfer ergeben eine Karte, die wie ein Fleckerlteppich aussieht. Je dunkler das Blau, desto schwerer hat es den Landkreis erwischt.

Im Laufe der Wochen hat sich ein Muster mit vielen Schattierungen ergeben, satten Blautönen in Oberpfalz und Oberbayern, blasseren Abschnitten in Schwaben oder Mittelfranken. Eine Feinheit versteckt sich in den Tiefen der Statistik. In vielen Regierungsbezirken gibt es eine Diskrepanz zwischen Großstädten und Land. Kurioserweise zu Gunsten der Ballungsräume, wo die Zahlen deutlich niedriger ausfallen.

In München zum Beispiel gibt es pro 100 000 Einwohner 411 Infizierte, dazu im gesamten Stadtgebiet 138 Tote – ganz Oberbayern verzeichnet 427 und 749. Noch ausgeprägter ist das Ungleichgewicht in der Oberpfalz, wo die Todesfälle in Regensburg (7) nur einen Bruchteil des gesamten Regierungsbezirks (310) ausmachen. Oder in Schwaben: In Augsburg erkranken 131 von 100 000 Bürgern an Corona, insgesamt sind es 196.

Die Annahme, eine höhere Bevölkerungsdichte bedeute mehr Ansteckungsgefahr, ist so nachvollziehbar wie offensichtlich falsch. Der Medizinstatistiker Gerd Antes erkennt „keinerlei Systematik“ in den Werten – eher das Gegenteil: „Es gibt eine unglaubliche Heterogenität zwischen den Zahlen.“

Antes, Professor an der Uni Freiburg, verweist auf das Phänomen der „Superspreader“ – Personen oder Ereignisse, die auf einen Schlag viele Infektionen auslösten. „Superspreading“ kann ganz unterschiedlich aussehen. Genau deshalb könnte es hinter den vermeintlich unlogischen Zahlen stecken.

Gerade nach den jüngsten Lockerungen richtet sich der Fokus ohnehin stark auf die Regionen. Steigen dort die Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen auf über 50 pro 100 000 Einwohner, gibt es einen lokalen Lockdown. Aktuell ist der Thüringer Landkreis Greiz (80,5) besonders gefährdet. In der Stadt Rosenheim, die am Mittwoch noch über der 50er-Marke lag, fiel der Wert gestern auf 33,1. Grund waren Testungen in drei Flüchtlingsunterkünften in der Woche zuvor, deren Ergebnisse nun wegen der Sieben-Tages-Frist in der Berechnung nicht mehr auftauchen.

Der Blick in die Landkreise hilft auch bei der scheinbar kuriosen Statistik. Der Kreis Tirschenreuth etwa hat es zu einer traurigen Berühmtheit gebracht. In Mitterteich gab es die erste Ausgangssperre Deutschlands, die Fallzahlen sind mit 1541 pro 100 000 Einwohner die höchsten im Land, es gibt bisher 125 Tote. Tirschenreuth ist der Grund, warum die Statistik in der Oberpfalz so eklatant zu Ungunsten der Region ausfällt.

Wolfgang Lippert, bis Ende April Landrat, nennt viele Ursachen: Altersschnitt, Vorerkrankungen, Testdichte. Vor allem aber gibt es den einen Punkt, der Tirschenreuth in die Nachrichten brachte. Das Starkbierfest in Mitterteich Anfang März steht in einer Reihe mit Après-Ski in Ischgl und Karneval in Heinsberg.

„Mit Sicherheit hat das eine Rolle gespielt“, sagt Lippert. Aber dass es der eine Grund sein soll, dagegen wehrt er sich. Sein Einwand: Als in Tirol und Südtirol die Skigebiete zugemacht wurden, waren viele Menschen unterwegs. Es gibt in Mitterteich eine Autobahn-Raststätte und dort einen McDonald’s. Da wird so mancher Tourist gehalten haben.

Das mag so gewesen sein. Die Theorie klingt allerdings auch ein bisschen, als wolle man den Geschichten etwas entgegensetzen, was einen weniger unglücklich dastehen lässt. Vielleicht wäre es ein Trost, wenn die rasende Verbreitung noch von anderen Faktoren abhängig war. Zum Beispiel Fastfood.

Das Coronavirus hat noch ganz andere Wege zurückgelegt. Im Landkreis Freising, der als einer der Ersten in Bayern betroffen war, gibt es eine direkte Verbindung zum Karneval in Heinsberg. Ein Oberbayer habe dort seinen Bruder besucht, berichtet Landrat Josef Hauner. Nach seiner Rückkehr habe er noch an etlichen Veranstaltungen teilgenommen. Obendrein kandidierte er für den Gemeinderat und machte Wahlkampf. Patient Nummer zwei, ein Bürgermeister-Kandidat, steckte sich im Skiurlaub an und schüttelte nach der Heimkehr viele Hände. Zwei Superspreader.

Regional galt auch Freising rasch als Hotspot, aber der Imageschaden hielt sich in Grenzen. Anderswo hat man Situationen falsch eingeschätzt, in Freising hatte man einfach Pech. Hauner spricht von Presserunden, wo der Landkreis viel Lob ernte, vom THW oder von den Ärzten.

Im Amtsdeutsch des LGL ist von „besonderen Ausbruchsgeschehen“ die Rede, die hinter den unterschiedlichen Fallzahlen stecken könnten. Ein Bierfest, ein Skiurlaub, ein Karnevalstrip. Auch im Landkreis Rosenheim wurde die Starkbiersaison noch feierlich eröffnet, doch nach wenigen Tagen wurden die Hähne zugedreht. Das hat die Stadt nicht vor einem schweren Kater bewahrt.

Auch in Rosenheim steht jetzt viel Krisenmanagement an. Zwischen zwei Meetings schickt Josef Huber, der stellvertretende Landrat, ein schriftliches Statement zur Situation im Landkreis, der mit 809 Infizierten pro 100 000 Bürger und 153 Toten ebenfalls zu den gebeutelten zählt. Huber weist auf die Nähe zu Tirol und Südtirol hin und auf die verhängnisvollen Faschingsferien. Die ersten Infizierten hätten zuvor „das schöne Wetter und die tollen Schneeverhältnisse und gegebenenfalls auch das Après-Ski genutzt“. Das Starkbierfest erwähnt er nicht.

Corona ist eine Zeit der schmerzhaften Lektionen. Wer oder was letztlich welche Rolle gespielt hat, mit dieser Frage werden sich noch viele Forscher befassen. Gerd Antes regt an, die großen Fragezeichen durch systematische Untersuchungen zu beanworten: „Dazu brauchen wir auch regionale Studien.“ Nur so, glaubt der Statistiker, könne am Ende ein aussagekräftiges Bild entstehen, das die großen Unterschiede herausstellt und ein besseres Verständnis bietet. Ein Bild, so vielfältig wie der tägliche Fleckerlteppich des Freistaats.

Das Phänomen „Superspreader“

Auch Rosenheim hatte ein Bierfest

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