Kirchseeon – Brigitte Kreppel hat die Briefe, die ihr ihre Mutter hinterlassen hat, schon oft gelesen. Trotzdem kriegt sie immer wieder eine Gänsehaut – und manchmal hat sie sogar ein paar Tränen in den Augen, wenn sie die Zeilen liest, die ihre Mutter ihrer Großmutter am 9. Mai 1949 geschrieben hat. Es war ein Brief zum Muttertag. Aber eigentlich war es mehr als das. Es waren Worte, die aus tiefstem Herzen kamen und die ihre Mutter schon lange aussprechen wollte. Das weiß Kreppel, obwohl sie 1949 noch ein Baby war:
Mein liebstes Muttelchen, am Muttertag heute sind meine Gedanken natürlich sehr, sehr oft bei Dir. Und es drängt mich, Dir zu schreiben, wie unendlich dankbar ich Dir bin für Deine Großherzigkeit und Dein müttlerliches Verstehen im bisher schwersten Teil meines Lebens. Mein Muttelchen, für Dich war es vielleicht das Natürlichste, für mich war es aber mehr, denn in dem Augenblick, wo ich Deines Beistandes gewiss sein durfte, konnte ich wieder froher in die Welt schauen. Denn ich wusste, ganz gleich, was die Zukunft bringen sollte, dass ich nicht allein sein würde.
Die Geschichte hinter diesem Brief ist sozusagen Brigitte Kreppel selbst. Sie kam im Dezember 1948 in Hamburg zur Welt – als uneheliches Kind. Um ihre Tochter versorgen zu können, musste Kreppels Mutter arbeiten. Weil sie aber nicht gleichzeitig ihr Baby versorgen konnte, bat sie ihre Mutter um Hilfe. Die war gerade Witwe geworden, hatte im Krieg alles verloren und lebte in einem kleinen Zimmer auf dem Bauernhof ihres Bruders in der Lüneburger Heide. Trotzdem nahm sie ihre Enkelin sofort bei sich auf und zog sie groß.
Brigitte Kreppel ist heute 71, lebt in Kirchseeon im Landkreis Ebersberg – und erzählt ihre Geschichte gerne. Denn ihre Mutter und ihre Großmutter haben es gemeinsam geschafft, dass sie eine glückliche Kindheit hatte. „Ich bin mit zwei Müttern aufgewachsen“, sagt sie. „Beide waren mir gleich wertvoll.“ Ihre Oma hat sie „Mama“ genannt und ihre Mutter „Mutti“. An beide hat sie wunderschöne Erinnerungen. Ihre Oma starb 1986, ihre Mutter vor einigen Jahren. Doch ein wenig von beiden ist immer da, wenn sie die Briefe von damals liest.
Dass sich die beiden Frauen in dieser Zeit der Trennung oft geschrieben hatten, hat sie erst sehr viel später erfahren. Ihre Oma hat all die Briefe aufbewahrt, ihre Mutter nur teilweise. Doch sie machte für Brigitte Kreppel eine Mappe daraus. Darin steckt nicht nur der Dankes-Brief zum Muttertag, sondern auch viele, in denen ihre Oma ihrer Mutter schilderte, wie die kleine Brigitte größer wurde. Die beiden tauschten sich über Alltägliches aus – und sagten sich oft, wie viel sie einander bedeuten. „Besuche waren damals nicht oft möglich“, erzählt Brigitte Kreppel. Heute ist sie fast dankbar darum – schließlich besitzt sie deswegen diesen Schatz, den ihr ihre beiden Mütter hinterlassen haben.
Jetzt, in der Corona-Zeit, hat Kreppel die Briefe besonders oft gelesen. „Auch dieses Jahr am Muttertag können sich ja viele Familien nicht sehen“, sagt sie. „Vielleicht bleiben den Enkeln aus diesem Jahr dafür auch ein paar besondere Karten oder Briefe, die eines Tages einmal sehr wertvoll sein könnten.“ Sie selbst schreibt zurzeit einmal pro Woche einen Brief an die Bewohner im Altenheim nebenan. Auch das haben ihr ihre Mütter hinterlassen: die Liebe fürs Briefeschreiben.