Als Unikat der Zeitungslandschaft erschien im Mai und Juni 1945 – während alle anderen Zeitungen in Deutschland verboten waren – das „Garmisch-Partenkirchener Tagblatt“. Darin wurden die Leser just am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation, erstmals über die Grauen der KZ-Lager informiert, und zwar durch einen Artikel aus der Feder eines ehemaligen Häftlings, der nur als Heinz B. benannt wird.
„Staatsfeind 8852“, so der Titel des Artikels, war KZ-Häftling in Dachau und im KZ Neuengamme, durchlitt Folter und überlebte nur mit knapper Not. Als extrem frühes Beispiel für ein Selbstzeugnis eines ehemaligen KZ-Häftlings – die berühmteste Selbstauskunft, Eugen Kogons Buch „Der SS-Staat“ über seine Zeit im KZ Buchenwald, erschien 1946 – ist der Artikel ein wertvolles zeithistorisches Dokument.
Mithilfe von Archivaren der KZ-Gedenkstätten ist es nun gelungen, den Verfasser des Artikels zu identifizieren und nähere Informationen über seinen Leidensweg zu erhalten. Bei Heinz B. handelte es sich demnach um Heinrich Bichler, einen Kellner, geboren 1917 in Trier, der 1941 in Wien in die Fänge der Gestapo geraten war.
Warum Bichler verhaftet worden war, ist nicht zweifelsfrei feststellbar. Weder auf der Gestapo-Karteikarte, die im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands Wien liegt, noch in Tagesrapporten der Gestapo ist ein Haftgrund erwähnt.
Einen Hinweis gibt Bichler selber. In seinem Artikel schreibt er: „Anläßlich der Vorfälle in der Wiener Oper im Januar 1941 erfolgte meine Verhaftung unter den fadenscheinigen Vorwänden.“ Möglicherweise spielt Bichler auf einen Zwischenfall in der Wiener Staatsoper mit Emmy Göring, der Frau der NS-Größe Hermann Göring, an, die mitten im Krieg zu einer Opernaufführung mit weißem Hermelinmantel und kostbarstem Schmuck erschienen und vom Publikum ausgebuht worden war. Die Dekadenz der Frau Göring war Stadtgespräch. War Bichler einer der Anführer des Protests dagegen?
Wie erging es nun Bichler? In seinem Artikel erwähnt er, dass er zunächst drei Monate im Wiener Gestapo-Hauptquartier, das sich im ehemaligen Hotel Metropol befand, immer wieder verhört und auch misshandelt (mit „bekannten Stapomethoden“) worden sei. Am 1. Mai 1941 sei er dann in das KZ Dachau eingeliefert worden. Das stimmt, denn im Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau gibt es eine Karteikarte, auf der Bichler unter dem 26. Mai 1941 als „Zugang“ aufgelistet ist. Wie es ihm in Dachau erging, darüber gibt Bichler selbst Auskunft: Schon bei der Ankunft sei er mit Fußtritten und Kolbenhieben traktiert worden. Dann wurden ihm die Haare geschoren („Sklavenschnitt“, nennt es Bichler). Er kam in die politische Abteilung des KZ. Es folgten (nicht näher erläuterte) schwerste körperliche Zwangsarbeiten, Prügel mit dem Ochsenziemer und kärgliche Verpflegung (Suppe, Brot). Im Artikel erwähnt Bichler auch, er habe sich wohl an der falschen Stelle über seine Situation beschwert. Prompt geriet er jetzt erst recht ins Visier der SS: „Mit Bock und Prügelstrafe versuchte man neuerdings, ein Geständnis aus mir herauszuschlagen“, einmal sei er auch eindreiviertel Stunden lang mit beiden Armen freischwebend aufgehängt worden, während ein polnischer Musikprofessor, ebenfalls KZ-Häftling, dazu Geige spielen musste. Kurz, die „Wertlosigkeit des Menschen“ sei tagtäglich erfahrbar gewesen. Bichler erwähnt ferner die Menschenversuche der Medizin im KZ Dachau, Malaria, Impfen mit Typhus-, Ruhr- und Fleckfieber-Erregern – wobei nicht klar hervorgeht, ob Bichler selbst so etwas erleiden musste.
Nach gut einem Jahr wurde Bichler in das KZ Neuengamme (südlich von Hamburg) überführt – warum, ist nicht klar. Er kam, so die Auskunft von Christian Römmer vom Archiv der dortigen KZ-Gedenkstätte, im Rahmen eines Transports von 500 Männern per Zug am 7. August 1942 an. Wie es ihm hier erging, dazu gibt es nur wenige Informationen. Drei Mal kam Bichler 1943 aufs Krankenrevier – ein Indiz dafür, dass die Schikanen in Neuengamme weitergingen. Sicher ist jedoch, dass er als Häftling Nr. 8852 geführt wurde – so erklärt sich die Überschrift des Artikels. Bichler überstand auch die Qualen von Neuengamme: Ende 1944, so schreibt er in seinem Artikel, wurde er entlassen, weil er sich freiwillig zur Wehrmacht meldete. Er erlitt eine Verwundung und kam ins Lazarett. Aber er überlebte. Wie es dann ab 1945 mit ihm weiterging, dazu gibt es keinerlei Hinweise. DIRK WALTER