München – Das Urteil über das Kruzifix in Klassenzimmern, das vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 16. Mai 1995 gefällt wurde und die Christen in Bayern in ihrer Seele traf, blieb erst einmal völlig unbemerkt. Denn erst am 10. August – mitten in den Schulferien – wurde die Entscheidung veröffentlicht. Trotz des Sommerlochs löste der Karlsruher Spruch eine riesige Protestwelle aus, die in einer Demo am 23. September 1995 in München mündete. Bis Jahresende wurden 700 000 Unterschriften gegen das Urteil gesammelt.
Ein Vater aus Schwandorf in der Oberpfalz hatte geklagt, weil sich seine sechsjährige Tochter vor dem toten Jesus an dem Kreuz gefürchtet hatte, das im Klassenraum hing. Die Klage richtete sich gegen Paragraf 13 Absatz 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen, nach dem in jedem Volksschul-Zimmer ein Kruzifix hängen müsse. Das Gericht befand: Diese Anordnung ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Der Vater wollte seine Kinder vor dem Anblick eines Leichnams schützen. Das Gericht sah diesen Wunsch durch die Glaubensfreiheit gedeckt.
„Das Urteil platzte ins Sommerloch“, erinnert sich Elke Hümmeler, die Geschäftsführerin im Landeskomitee der Katholiken in Bayern war und in der Ferienzeit eine Art „Stallwache“ im Büro des Landeskomitees in München hielt. „Keiner war wirklich vorbereitet auf ein solches Urteil. Zunächst war niemand da, der eine echte, fundierte Beurteilung geben konnte“, erzählt sie im Gespräch mit unserer Zeitung. „Und dann kam diese riesige Empörungswelle aus der Bevölkerung, die ein Ventil suchte.“ Wütende Menschen riefen im Ordinariat und im Landeskomitee an. „Das kann doch nicht wahr sein! Wir haben während des Nationalsozialismus für das Kreuz gekämpft“, hätten sich Anrufer empört. Hümmeler sprach mit den Diözesanräten, den Laienvertretungen, in den bayerischen Diözesen – und da entstand die Idee: „Wir organisieren eine Demonstration!“ Wir, das hieß Elke Hümmeler. Die damals 37-Jährige hat alles in die Hand genommen. Es sollte keine Urteilsschelte werden, man wollte ein positives Statement für das Kreuz setzen. Dass es am Ende gut 25 000 Menschen sein sollten, die in München demonstrierten, hatte sich die Theologin, die später Bayern erste Ordinariatsrätin werden sollte, zunächst nicht vorstellen können.
Das Urteil schmiedete Allianzen zwischen Kirche, Politik und Gesellschaft – wobei es für die Kirche schwierig war, nicht von der Politik vereinnahmt zu werden. Ministerpräsident Edmund Stoiber sprach auf der Kundgebung. Aber noch viele andere Politiker wollten das Wort ergreifen. „Ich musste dann immer meinen ganzen Mumm zusammennehmen, um sagen zu können: ,Nein, das gibt es nicht“, berichtete Hümmeler später. Das sollte keine politische Demo werden, sondern eine friedliche, christliche Aktion.
25 Jahre später stellt Hümmeler, die seit Ende März im Ruhestand ist, fest, dass das Urteil „wach gemacht hat“. Es habe gezeigt, dass man die „Selbstverständlichkeiten des christlichen Lebens erklären und sich auch dafür einsetzen muss“. Das erste Mal habe die christliche Welt gemerkt: Es ist nicht mehr alles selbstverständlich in dieser sich säkularisierenden Gesellschaft. Auch im Nachhinein betrachtet sie das Urteil nicht als Katastrophe. Die Schulordnung wurde überarbeitet und mit einer Widerspruchsregelung versehen: Nur in begründeten „atypischen Ausnahmefällen“ soll das Kreuz auf einzelne Klagen hin abgehängt werden.
An einzelnen Schulen wurden seither Kreuze abgenommen. Oder Kruzifixe mit einem leidenden Christus gegen schlichte Kreuze ausgetauscht. Und es wurde viel diskutiert vor Ort. „Aber im Gros der Schulen blieben die Kreuze an ihrem Platz“, sagt Hümmeler. Es gebe keine unreflektierte Selbstverständlichkeit mehr, sondern es sei ein Reflexionsmodus erfolgt „bis hin zu der letzten Anordnung von Ministerpräsident Markus Söder, die Kreuze auch in anderen öffentlichen Gebäuden wieder aufzuhängen“.