Hunderte Briefe einer Freundschaft

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

Beim ersten Mal dachte sich Maria-Magdalena Siegesmund noch nichts dabei. Beim zweiten Mal wurde sie stutzig. Und als der neue Herr Kaplan sie zum dritten Mal „Gabi“ nannte, wurde ihre Neugier schließlich zu groß, um die Frage nicht zu stellen: „Wieso sagen Sie immer Gabi zu mir, Herr Kaplan? Ich bin doch die Leni.“ Das Ganze war dem neuen Kaplan unangenehm. Er war erst vor Kurzem von Berchtesgaden nach Gröbenzell in den Landkreis Fürstenfeldbruck versetzt worden. „Du siehst einem Mädchen aus Berchtesgaden, das Gabi heißt, zum Verwechseln ähnlich“, sagte Kaplan Raab damals.

Das hätte das Ende der Verwechslungsgeschichte sein können – doch es war erst der Anfang. Denn der 13-jährigen Leni Siegesmund ließ der Gedanke keine Ruhe, dass an einem anderen Ort in Bayern ein Mädchen lebt, das so aussieht wie sie. „Ich war so neugierig, dass ich den Kaplan um ihre Adresse bat“, erzählt sie. Seit damals sind fast 60 Jahre vergangen. In jedem einzelnen davon war Leni Siegesmund froh, dass sie damals, im Dezember 1961, einen Brief verfasst, ein Schwarz-Weiß-Foto von sich in den Umschlag gesteckt und ihn an die unbekannte Gabi nach Berchtesgaden geschickt hat. „Ich habe ihr von der Verwechslung erzählt und sie um ein Foto von sich gebeten“, erzählt sie. Und es dauerte nur ein paar Tage, schon kam eine Antwort:

Liebe Leni! Ich war erstaunt, als ich am hl. Abend vormittags einen Brief bekam. Noch dazu von einem Mädchen, das ich gar nicht kenne. Habe mich aber sehr gefreut. Deine Bitte, von mir ein Bild zu bekommen, kann ich Dir erst später erfüllen, weil ich leider keins habe, wo ich allein drauf bin. Sei mir also bitte nicht böse. Grüße doch bitte Herrn Kaplan Raab von mir u. er soll mir doch auch mal schreiben, wenn er Zeit hat.

P.S.: ich bin 16 Jahre u. im 2. Lehrjahr als Verkäuferin in Textil u. Lebensmittel.

Viele Grüße von Gabi Kurz

Leni Siegesmund besitzt diesen Brief noch. Und es kamen stapelweise weitere dazu. Sie hat alle wie einen Schatz gehütet – zusammen mit den beiden Schwarz-Weiß-Fotografien, die sie und Gabi damals ausgetauscht hatten. „Wir hatten beide braune Haare und braune Augen und waren schlank“, sagt Siegesmund. Theoretisch hätte man die beiden auseinanderhalten können. Aber Leni Siegesmund ist froh, dass es dem Kaplan damals so schwerfiel. Sie verdankt ihm schließlich die Brieffreundschaft ihres Lebens. Sie und Gabi schrieben sich auch weiterhin Briefe, nachdem die Fotos ausgetauscht waren. Anfangs noch sehr zurückhaltend:

Vielleicht besuch ich Dich in meinem Urlaub mal, aber genau weiß ich es noch nicht, schrieb Gabi im Februar 1962. Wenn ich mit meinem Geld auskomme, denn viel bekomme ich im 2. Lehrjahr auch nicht. 80 DM krieg ich, muß Mama 30 DM abgeben, bleiben mir also noch 50 DM. Möchte mir aber zu Ostern ein schickes Kostüm kaufen u. das kostet 100 DM. Also Du siehst, daß ich die 2 Monate bis April sehr sparen muß. Darf mir nichts kaufen u. in kein Kino gehen, wo ich sowieso so selten ins Kino gehe. Hoffentlich klappt es, daß ich meinen Urlaub im April bekomme. Würde mich sehr freuen, wenn ich Dich mal persönlich kennenlerne.

Für zwei Teenager ohne Auto und ohne große Ersparnisse waren die rund 180 Kilometer zwischen Gröbenzell und Berchtesgaden erst einmal unüberwindbar. Es blieb bei den Briefen. „Wir haben uns fast jede Woche geschrieben“, erzählt Siegesmund. „Und irgendwann haben wir mit dem Telefonieren angefangen.“

Auch das klingt einfacher, als es in den 1960er-Jahren war. Denn Lenis Familie hatte nicht mal ein Telefon. Gabi musste immer bei den Nachbarn anrufen. „Sie hat sich angekündigt und nach einer Viertelstunde noch mal angerufen. Bis dahin hatten mich die Nachbarn geholt“, erinnert sich Siegesmund. „Wir durften eine Viertelstunde telefonieren – länger wäre zu teuer geworden.“ Sie schmunzelt. Manchmal scheint es ihr wie ein kleines Wunder, dass Gabi und sie sich gefunden und nicht wieder verloren haben. „Wir haben uns einfach auf Anhieb verstanden“, erzählt sie.

Gabi Kurz hat einen großen Teil der vielen Briefe durch einen Umzug verloren. Doch Leni Siegesmund hat sie alle aufbewahrt. Es sind viele Stapel. „Manchmal nehme ich einen mit, wenn ich Gabi in Berchtesgaden besuchen fahre“, erzählt sie. Und gerade jetzt in der Corona-Zeit, wo die 71-Jährige wie so viele Menschen mehr Zeit als gewöhnlich zu Hause verbringt, hat sie wieder viel in den alten Briefen gelesen. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit. Sie hat noch einmal durchlebt, wie sie und Gabi gemeinsam erwachsen wurden. 1964 schrieb ihr ihre drei Jahre ältere Freundin:

Liebe Leni! War am Samstag am Edeka-Ball. Du, der war toll. Musik war einfach prima. Ich bin die ganze Zeit zum Tanzen aufgefordert worden. Es war einfach toll. Twist, Cha-Cha-Cha, Foxtrott, Walzer u. Bossa Nova haben wir getanzt. War um 3 Uhr zu Hause. Meine Chefin war als Guvernante verkleidet u. meine Kollegin Bärbl als Indianergirl. Ich war eine Japanerin, habs Dir eh geschrieben. Ich heb Dir schon die Daumen beim Zeugnis. Es wird schon gut ausfallen. Was willst Du denn mal werden? Büro oder Verkäuferin? Werde bloß keine Verkäuferin, sowas undankbares gibt’s gar nicht wieder. Jeden Samstag arbeiten…

Leni Siegesmund hörte auf den Rat ihrer Freundin. Sie wurde nicht Verkäuferin, sondern Rechtsanwaltsgehilfin. Die beiden erzählten sich in Briefen von ihrer ersten großen Liebe, schickten sich Hochzeitseinladungen. Sogar den Brief, in dem Gabi ihr erzählte, dass sie ein Baby bekommt, hat Leni Siegesmund wiedergefunden. Und dann die Glückwünsche zu ihrer Tochter:

Liebe Leni! Ich habe mich so gefreut für Euch, dass es ein Mädchen geworden ist. Sie muß ja recht goldig aussehen, eure kleine Angela.

Die beiden waren füreinander da, als ihre Eltern und Ehemänner starben. „Vor zehn Jahren haben wir mit dem Schreiben aufgehört“, erzählt Siegesmund. „Seitdem telefonieren wir. Jeden Morgen von 7.30 bis 8.30 Uhr.“ Diese Stunde ist ihr heilig. Jetzt, wo sie ihre Gabi wegen der Pandemie nicht sehen konnte, waren die Telefonate wichtiger denn je.

2021 sind die beiden seit sechs Jahrzehnten Freundinnen. Fast mehr noch. „Gabi ist für mich wie eine Schwester“, sagt Leni Siegesmund. Ihr Freundschaftsjubiläum wollen sie zusammen feiern. Wie – das planen sie gerade. Aber mit Sicherheit werden ein paar Stapel alter Briefe mit dabei sein. Nur eines tut Leni Siegesmund ein wenig leid. „Der Herr Kaplan hat nie erfahren, was er mit seiner Verwechslung angerichtet hat“, erzählt sie. Er wurde wieder versetzt, bevor sie ihm berichten konnte, dass sie ihm die Freundschaft ihres Lebens zu verdanken hat.

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