Durch die Corona-Krise sind an den Schulen Denkschablonen weggefallen. Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann, hat sich im Gespräch mit unserer Zeitung Gedanken über Schule nach Corona gemacht. Sie findet: Die Krise sollte Ansporn sein, Althergebrachtes in der Schule zu überdenken und fallen zu lassen. Hier ihre wichtigsten Punkte:
Erste These: Noten sind nicht alles.
Erläuterung: „An allen Schularten sind durch die Schulschließungen Schulaufgaben und Klausuren weggefallen – besser gesagt: ersatzlos gestrichen worden“, sagt die BLLV-Präsidentin. Sie fragt: Schule sei doch nicht, jedenfalls nicht ausschließlich, dafür da, Zeugnisse auszustellen und Leistungen zu messen. So ein verengter Bildungsbegriff führe dazu, dass Kinder meinen, sie lernten für die Schule und nicht fürs Leben. Wichtig sei „ganzheitliches Lernen“. Das bedeute letztendlich, einen alten tradierten Lern- und Leistungsbegriff über Bord zu werfen. Es führe aber nicht dazu, Wissen, Kompetenzen und Leistung zu vernachlässigen.
Fazit: Leistungsrückmeldungen sollten stärker ganzheitlich stattfinden, mehr Verbalgutachten auch an weiterführenden Schulen sind hier ein Weg.
Zweite These: Die Fokussierung auf den Fachunterricht ist fragwürdig.
Erläuterung: Sind nur die Kernfächer wichtig? Nur Mathematik, Deutsch und Englisch? Und was ist mit Sport, Musik, Religion, Handarbeit, Kochen, Werken und Kunst? „Die Welt tickt nicht nach 18 Fächern – und die Kinder auch nicht“, sagt Simone Fleischmann. Lehrer seien bereit, über die Fächergrenzen hinweg Kernkompetenzen herauszuarbeiten. „Dazu ist aber ein neues Verständnis von Lernen und Leistung wichtig.“
Fazit: Die Corona-Krise sollte Anlass sein, mehr fächerübergreifenden Unterricht anzubieten: projektorientiert und phänomenologisch, das heißt auf Phänomene ausgerichtet – in allen Schularten.
Dritte These: Sitzenbleiben gehört hinterfragt.
Erläuterung: Ein Satz von Ministerpräsident Markus Söder ließ aufhorchen: Ein Corona-Sitzenbleiben gibt es nicht, versicherte Söder in einer seiner Pressekonferenzen. „Das ist eine wohltuende Anordnung“, sagt Fleischmann – und unvorstellbar in normalen Zeiten. Aber wieso eigentlich? „Es ist sinnlos, wegen zwei schlechten Noten das ganze Jahr zu wiederholen und dann darauf zu hoffen, dass im Wiederholungsjahr alles besser wird“, findet die BLLV-Chefin. Nachhaltigkeit im Lernen sehe anders aus – nicht nur in Corona-Zeiten.
Fazit: Wenn Sitzenbleiben ineffizient ist, dann muss man andere Wege finden, Schülern mit Schwächen in bestimmten Bereichen zu helfen. Die individuelle Förderung muss massiv ausgebaut werden.
Víerte These: Digitales Lernen hat Schwächen und muss verbessert werden.
Erläuterung: Die Diagnose kommt nicht überraschend. Das offizielle Schulportal Mebis hat Schwächen – so groß ist die Not, dass das Kultusministerium jetzt für Millionenbeträge bei Microsoft das Programm MS Teams gekauft hat. Es ermöglicht auch digitalen Klassenunterricht. Dennoch ist Fleischmann unzufrieden: „Digitales Lernen war die Ausnahme, vieles war nur digitales Kommunizieren. Hier müssen wir besser werden.“ Selbstverständlich müsse digitales Lernen einen hohen Stellenwert bekommen. Das bedeute: Dort, wo es dem Lernerfolg der Schüler nutzt, sollte auf digitales Lernen zurückgegriffen werden.
Aber Simone Fleischmann sagt auch: Im Zentrum von Schule stehen auch in Zukunft die Lehrer, die Beziehung zu den Schülern, die individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen. Digitales Lernen ist nur ein Mittel, um Schüler „individuell und bestmöglich“ zu fördern. Sie will auch nicht den Stab über vermeintlich altmodische Lehrer brechen, die in der Corona-Krise „mit dem Fahrrad den Kindern große braune Umschläge nach Hause gefahren haben mit individuell zusammengestelltem Lernmaterial, einer netten persönlich verfassten Karte und vielleicht noch einem ganz besonderen Lernspiel“ und so zu Schule dahoam motivierten.
Fazit: Schulen brauchen nach Corona in allen Fächern, in allen Schularten und in allen Jahrgangsstufen Kernkompetenzen der digitalen Bildung. Einfach zwei Stunden Digitalkunde draufzupacken wäre aber der falsche Weg. Digitalisierung muss überall verankert werden, daraus folgt allerdings auch, dass hire und da Inhalte reduziert werden müssen.
Fünfte These: Die Kommunikation Elternhaus/Lehrer gehört auf den Prüfstand.
Erläuterung: In der Corona-Krisenzeit geht auf einmal, was früher streng untersagt war, zum Beispiel die Einbindung von Lehrern in eine Whatsapp-Schülergruppe.
Die BLLV-Chefin fragt: „Wer hätte denn gedacht, dass es Elternabende via Videokonferenz gibt? Wer hätte denn gedacht, dass es so wichtig ist wie noch nie, sich telefonisch darüber zu erkundigen, wie es Sebastian, Paul oder Laura geht?“ Aber auch hier gelte: „Persönliche Begegnung ist viel mehr wert als ein schickes neues digitales Tool!“
Fazit: Das Ministerium sollte digitale Kanäle zur Elternkommunikation auch nach Corona offen halten – als Ergänzung, nicht als Ersatz für den traditionellen Elternabend und die Sprechstunde.
Sechste These: Demokratie-Erziehung ist nach Corona noch wichtiger geworden.
Erläuterung: Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Schüler fragen sich, wer hat denn eigentlich recht? Welcher Virologe sagt das Richtige? Ist es nicht so, dass der Ministerpräsident als politische Spitze des Landes schon die richtigen Entscheidungen treffen wird? „Diese Fragen“, sagt Fleischmann, „müssen uns auch im Unterricht beschäftigen“. Corona zeige: Demokratie müsse auch in der Krise gelebt werden! In der Schule – und der Politik!
Fazit: Auch hier braucht es kein neues Fach. Das Lernen von Demokratie muss in allen Lernbereichen integriert werden.
Zusammenfassung: Dirk Walter