Ein leerer Umschlag voller Erinnerungen

von Redaktion

Vierkirchen – „An Absender zurück“ steht mit roter Schrift auf dem Umschlag, den Sigrid Brunner seit Jahrzehnten wie einen Schatz hütet. Dieser Umschlag ist eine Erinnerung an ihren Vater, den sie kaum kennengelernt hatte. Vor allem ist er eine von sehr wenigen Erinnerungen an ihn, die ihr geblieben sind. Er ist im Krieg gefallen, als sie noch ein kleines Mädchen war. In dem Umschlag steckte der letzte Brief, den ihre Mutter an ihn geschrieben hatte. Er hat ihn nicht mehr erhalten. „Gefallen für Großdeutschland“ ist auf dem Umschlag vermerkt worden – so ging er zurück an die Familie.

„Der Brief darin ist leider verschollen“, erzählt Brunner. Sie ist inzwischen 81 Jahre alt und lebt in Vierkirchen im Landkreis Dachau. Den Umschlag hat sie ihr gesamtes Leben lang gut aufbewahrt. Zusammen mit einer Schwarz-Weiß-Fotografie von ihrem Vater. „Ich habe leider sehr wenig Erinnerungen an ihn“, erzählt sie. Da er Soldat war, hat sie ihn nur selten gesehen. Sie weiß noch, dass sie einmal zu Hause in Berlin auf dem Balkon stand und ein Soldat mit rotem Vollbart die Straße entlanglief und ihr zuwinkte. „Ich habe meinen Vater damals nicht mal erkannt und bin verängstigt ins Haus gerannt“, erinnert sie sich.

Doch Sigrid Brunner hat viel recherchiert. „Meine Mutter hat zum Glück alle Unterlagen in einem Ordner abgeheftet.“ Der Kapitän und die Kameraden ihres Vaters hatten der Familie damals geschrieben, um ihr zu berichten, wie er 1943 ums Leben gekommen war.

Ihr Vater war Pilot. Als er eingezogen wurde, musste er die Transportflugzeuge fliegen. 1943 saß er am Steuer der berühmten Junkers Ju 52 (Spitzname „Tante Ju“). Ein Kamerad war ausgefallen, deshalb musste er einspringen und die Soldaten an die Front fliegen. „Auf dem Rückweg wurde er über Jugoslawien von den Engländern angegriffen“, erzählt Brunner. Sein Flugzeug wurde getroffen. Seine Kameraden, die von anderen Flugzeugen aus alles beobachteten, schilderten in ihren Briefen genau, was passiert war. „Mein Vater wurde in 1500 Metern Höhe getroffen. Er muss noch versucht haben, das Flugzeug zu landen. Doch 200 Meter über dem Boden explodierte es und stürzte ab. Ihm blieb keine Zeit mehr, mit dem Fallschirm abzuspringen.“ An Bord der Maschine waren fünf Mann – keiner von ihnen hat überlebt.

Die Geschichte ihres Vaters steckt für Sigrid Brunner in dem alten, vergilbten Umschlag – obwohl er leer ist. In letzter Zeit hat sie ihn wieder häufiger in die Hand genommen und lange betrachtet. Vielleicht, weil sie jetzt, während der Pandemie, vieles an die Kriegszeit erinnert, die sie als kleines Mädchen in Berlin erlebt hatte. „Natürlich kann man die Zeit jetzt nicht wirklich mit dem Krieg vergleichen“, betont sie. Aber die Mundschutzmasken haben ihre Erinnerungen an die Nächte im Bunker, als alle Gasmasken tragen mussten, wieder lebendiger gemacht. Oder an die Nächte, in denen ab 22 Uhr eine Ausgangsbeschränkung galt. Vielleicht hat sie deshalb wieder die alten Unterlagen durchgeblättert, die ihre Mutter ihr vererbt hatte.

Darin sind auch noch zwei Briefe, die ihr Vater damals von der Front nach Hause geschickt hatte. „Er hat sehr liebevoll geschrieben“, sagt Brunner. Besonders berührt hat sie ein Satz: „Er hat meiner Mutter geschrieben, dass sie immer gut auf mich aufpassen soll“, erzählt sie. Das hat sie getan. Sigrid Brunner hat drei erwachsene Söhne, besonders der Jüngste interessiert sich sehr für die Geschichte seiner Familie. Vielleicht wird sie ihm eines Tages den leeren Umschlag schenken – in dem so viele Erinnerungen stecken. KATRIN WOITSCH

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