München – Der Ton ist nicht vorwurfsvoll, aber die Botschaft unmissverständlich. In einem Schreiben an das Innenministerium klagt Detlev Tolle, Vizepräsident der bayerischen Bereitschaftspolizei, über die „fachlichen Defizite“ von knapp 700 jungen Beamtinnen und Beamten. Ihnen fehlten wichtige „Kernkompetenzen“, vor allem in Bereichen, die für die Polizeiarbeit immer wichtiger würden. Das Schreiben vom 26. März dieses Jahres liegt unserer Zeitung vor. Tolles Fazit: Die Kollegen seien „keine vollständig ausgebildeten Polizisten“.
Hintergrund ist nicht das Versagen eines Jahrgangs, sondern die Tatsache, dass den jungen Polizisten wegen der Corona-Pandemie ein kompletter halbjähriger Ausbildungsabschnitt gestrichen wurde. Ihnen fehlten nun „viele komplexe und teilweise einsatzkritische“ Fähigkeiten, schreibt Tolle.
Er zählt rund ein Dutzend Bereiche auf, in denen die Kollegen nicht geschult wurden. Dazu gehören Themen, mit denen Polizisten täglich zu tun haben, etwa die Bearbeitung von Online-Straftaten, die Aufnahme eines Verkehrsunfalls oder Personenkontrollen. Im fünften Ausbildungsabschnitt werden aber auch „lebensbedrohliche Einsatzszenarien“ trainiert, zum Beispiel ein Amoklauf. Tolle schreibt: „Ohne umfangreiches Training und bei dem in diesem Bereich zu erwartenden hohen Stresslevel ist ein geordnetes und koordiniertes Einschreiten der BIA [der Auszubildenden, Anm. d. Red.] nicht möglich.“
Tolle war gestern noch im Urlaub und deshalb nicht für ein persönliches Gespräch zu erreichen. Das Innenministerium, das offenbar den Ausbildungsabbruch angeordnet hatte, lieferte bis Redaktionsschluss – trotz Anfrage – keine Stellungnahme.
Der innenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Richard Graupner, spricht mit Blick auf den Ausbildungsabbruch von einer „fatalen Fehlentscheidung“ der Staatsregierung. Die entstandene Lücke gefährde „im Extremfall Leib und Leben der jungen Beamten, ihrer Kollegen und unserer Bürger.“ Graupner fordert Innenminister Joachim Herrmann (CSU) auf, ein Konzept vorzulegen, um die fehlenden Ausbildungsinhalte nachzuholen.
Tolle ist da wenig optimistisch. Das Ausbildungsniveau der jungen Beamten entspreche „nicht mehr dem Anspruch an eine qualitativ hochwertige Polizeiausbildung“, schreibt er. Ein Nachholen der Defizite sei „im Rahmen der regulären Fortbildung nicht möglich“. Unterm Strich, schreibt der Polizeivizepräsident weiter, seien die in Kauf genommenen Defizite zwar vertretbar, „aber nur aufgrund der derzeitigen Ausnahmesituation“.