„Das Wasser ruft uns – und wir dürfen nicht rein“

von Redaktion

VON KLAUS MERGEL

Wolfratshausen – Die Loisach hat keine Balken. Noch nicht. Etwa 30 Zentimeter messen die Rundhölzer, die am Ufer des Isarzuflusses darauf warten, dass sie jemand ins Wasser rollt. Die rund 60 Stämme gehören zum Betrieb von Josef Seitner, 72. Er ist Flößer in der vierten Generation in Wolfratshausen.

Seit er 16 Jahre alt ist, übt Seitner das Handwerk aus, das sich seit hunderten Jahren an Loisach und Isar erhalten hat. Früher brachte man so Bauholz und Steine und sogar Geigen aus Mittenwald in die bayrische Landeshauptstadt. Ab den 1950er-Jahren transportierte man per Floß dann nur noch Personen: Gaudifahrten für Vereine, Firmen und Touristen. Seit April ist die Tradition in das bayrische Landesverzeichnis des immateriellen Unesco-Kulturerbes eingetragen.

„Das ist schön und macht uns auch stolz auf unser Handwerk“, sagt Josef Seitner. „Hilft uns aber grade nix.“ Denn: Wegen Corona dürfen die Flößer nicht fahren. Zu eng geht es zu auf den urwüchsigen Wasserfahrzeugen, die auf dem Gebirgswasser gen München gleiten. Auf den 18 mal 6,80 Metern tummeln sich bis zu 60 Personen: Der Mindestabstand ist – eventuell mit ein paar Mass intus – kaum einzuhalten. Seitner will die Corona-Beschränkungen nicht kritisieren. „Absolut richtig. Lieber Vorsicht als Nachsicht.“ Aber so langsam würde er schon gerne wieder ablegen.

Finanziell hat Seitner ausreichend Atem. Das Betriebsgebäude, in dem der 72-Jährige aufgewachsen ist, ist Familienbesitz, ebenso der Wald, aus dem die Bäume stammen. „Klar nehmen wir derzeit null Euro ein. Aber wir nagen nicht am Hungertuch“, sagt er. Für seine Mitarbeiter freilich gibt es derzeit kaum was zu tun. Bis zu 15 Leute arbeiten bei ihm zwischen Mai und Juli. Aktuell machen die drei Festangestellten Kurzarbeit. Nur Seitners Schwiegersohn Michele Scollo, 40, und Mitarbeiter Jason Charles, 42, sind da.

Die Vorbereitungsarbeiten haben sie längst erledigt: neue Ruder herstellen, drei Stück pro Floß. Dicke Eisendrähte zusammendrehen, mit denen die Stämme mittels Stahlkeilen verbunden werden. Schlingen aus Weide verknoten, mit denen die Ruder fixiert sind: das Naturmaterial deswegen, weil Metall das Holz von Ruder und Rudersäule durchreiben würde. Alles ist Handarbeit. „Das fühlt sich grade komisch an“, sagt Michele Scollo. „Das Wasser ruft uns – und wir dürfen nicht rein.“

Das Ufer im Wolfratshauser Ortsteil Weidach ist ein Idyll: Vögel zwitschern, das Wasser rauscht. Am Ufer unterhalb der Stahlträger, über die sonst morgens Stämme ins Wasser rollen, jagt ein Angler nach Äschen, Forellen oder Huchen, die sich in der Loisach tummeln. „Wann geht’s bei Euch los?“ ruft er rüber. Seitner bayrisch-orakelhaft: „Schau mer mal.“

Schon im Oktober hatten die Männer im Wald die Bäume für die Saison gefällt: schnurgerade Fichten, bestes Mondholz. Am Ziel jeder Fahrt werden die Flöße in Thalkirchen zerlegt und per Laster nach Wolfratshausen gefahren, um tags darauf wieder zusammengefügt zu werden. „Die Spedition ist der teuerste Teil der Geschichte“, so Seitner. Am Ende jeder Saison verkauft er die Stämme an Münchner Sägewerke.

Normalerweise geht die Arbeit am Ufer um 6.30 Uhr los. Mit dem Wendehaken packen die Männer die Stämme und ziehen sie zum Hang, wo sie ins Wasser rollen. „Damit kannst du den schweren Stamm gut drehen und bewegen“, sagt Charles und demonstriert, wie man mit dem Haken den tonnenschweren Baum in den Griff bekommt. Auch die frisch geschärfte Floßhacke, eine Axt, ist immer griffbereit. Mit ihr werden die Bäume während der Fahrt gedreht, Keile festgeklopft – und das Floß bei der Ankunft in Thalkirchen zerlegt. „Unser wichtigstes Werkzeug“, erklärt Charles.

Charles stammt aus Trinidad, Tobago: Die Seitners lernten ihn in einem Hotel in der Karibik kennen, wo er arbeitete. Nach einigen Jahren im Münchner Hilton heuerte er bei den Flößern an. Er schwärmt: „Eine schöne Arbeit, bei der man der Natur nahe ist. Und ich bleibe fit.“ Auch Scollo, vorher in der Gastronomie tätig, bevorzugt das Körperliche. „Klar ist man nach einen Tag auf dem Floß müde. Aber das ist eine angenehme Müdigkeit.“

Flößer müssen anpacken. Und ungefährlich war das Geschäft noch nie. Auch wenn ein Floß eine Bremse hat, die sich im Ernstfall ins Flussbett bohrt: 20 Tonnen in Bewegung – ohne Ladung. In früheren Zeiten habe man, erzählt Seitner, am liebsten Nichtschwimmer genommen: „Die verteidigen das Floß, wenn was ist.“ Er grinst. Und Junggesellen waren gefragt – die belasteten die Innungskasse im Todesfall nicht so stark. Sein Großvater fuhr noch zu Zeiten, als es nicht um die Gaudi ging: Sebastian Seitner war bei der letzten Floßfahrt auf der Donau an Bord, die 1904 einen Biersudpfannendeckel von Bayern nach Wien brachte.

Diese Zeiten sind vorbei. Doch wie einst werden die Stämme im Wasser per Hand mit dem „Stackl“ zusammengefischt und mit Bindedrähten verbunden. In die Bäume sind Nuten geschnitten, in die Querbalken zur Stabilität kommen. Am Ende baut man ein Podest aus Rundlingen und Brettern auf, damit die Touristen keine nassen Füße kriegen. Dann kann es losgehen. Knapp 3000 Euro kostet eine Floßfahrt. Macht bei Vollbelegung pro Gast um die 90 Euro – Essen und Trinken inklusive. „Das gibst an einem Wiesn-Tag leicht aus“, sagt Seitner.

Drei Flöße schickt er täglich auf die Reise. Normalerweise. Nun hat er ungewohnt viel Zeit – vor allem am Wochenende. Was man macht? „Zeit mit der Familie verbringen“, sagt Scollo. „Die Frau ärgern“, flachst sein Schwiegervater. In Wahrheit – das kommt recht schnell raus – brummen die Gattinnen ihren Männern jede Menge Aufgaben in Haus und Hof auf. Kein Wunder, dass die Loisach ruft. „So ein Maitag auf dem Floß, eine schöne Brotzeit und Musik dabei, und in der Natur – das ist das Schönste“, sinniert Seitner. Nicht nur die Sonnentage seien schön. „Was meinst Du, was für eine Stimmung aufkommt, wenn die bei Regen unter der Plane zusammenrutschen!“ Manche Gäste hätten sich später gemeldet und gesagt: „Wir fahren wieder mit – aber nur bei Regen.“

Kürzlich bekam Seitner einen Anruf: Ob er auch nur 20 Leute mit Sicherheitsabstand befördern würde. „Logisch mach ich das – wenn ich darf.“ Denn das Floß wird pauschal gebucht, egal wie viele Gäste mitfahren. Das Warten könnte schon bald vorbei sein. An Bayerns Seen legen diesen Samstag die Ausflugsschiffe wieder ab. „Wenn die dürfen, sieht es für uns gut aus“, sagt Seitner.

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