Gestorben an Einsamkeit

von Redaktion

VON STEFANIE ZIPFER UND KATRIN WOITSCH

München – Heidi Posselt ist überzeugt: „Meine Mama ist nicht an Corona gestorben – aber wegen Corona.“ Am 9. Mai ist Luise Schleich in ihrem Zimmer im AWO-Pflegeheim in Oberschleißheim (Landkreis München) friedlich eingeschlafen. Doch die letzten sieben Wochen ihres Lebens waren furchtbar einsam. Und dieser Gedanke macht ihrer Tochter schwer zu schaffen.

Luise Schleich war 81. Sie litt an Demenz, war aber fit und lebensfroh. Jeden Sonntag besuchte sie die Familie, sie spielten zusammen Memory, es wurde viel gelacht. Dann kam Corona – und es waren plötzlich keine Besuche mehr möglich. Luise Schleich lag fast nur noch im Bett. Wenn Heidi Posselt sich telefonisch nach ihr erkundigte, sagten ihr die Pflegekräfte, sie esse gut und schlafe viel. Doch dann verschlechterte sich ihr Zustand immer weiter. Sie musste ins Krankenhaus. Als es ihr besser ging, durfte sie jedoch nicht zurück, weil befürchtet wurde, sie hätte sich in der Klinik mit dem Coronavirus infiziert haben können. Ende April wurde Schleich in eine Tagesklinik für Demenzkranke in München verlegt – unter strenger Quarantäne. Dort baute sie weiter ab. Sie jammere viel und leide an Vereinsamung, teilten die Pflegekräfte der Familie mit. „Meine Mutter hatte Angst, sie war dement und hat nicht verstanden, was passiert“, sagt Heidi Posselt.

Als Luise Schleich Anfang Mai wieder in das Heim nach Oberschleißheim zurück durfte, hatte sie ihren Lebenswillen verloren. Zwei Tage später bekamen Heidi Posselt und ihre Geschwister eine Ausnahmegenehmigung – um sich von ihrer Mutter verabschieden zu dürfen. Den Pflegekräften und Ärzten macht Posselt keinen Vorwurf. Aber sie ist sicher, dass ihre Mutter wegen den Corona-Schutzmaßnahmen gestorben ist. An Einsamkeit.

Wie Luise Schleich leiden viele Senioren daran, dass sie Monatelang ihre Familien nicht sehen durften. Seit dem 9. Mai können die Senioreneinrichtungen mit individuellem Schutzkonzept zwar wieder Besuche zulassen. Doch gerade die Heime, in denen es viele Corona-Infektionen gab, machen das bislang noch nicht. Und selbst wenn wieder Besuche möglich sind, sei es schwer, die Einsamkeit der Menschen aufzufangen, berichtet Renate Schiller (Name geändert). Einer ihrer Angehörigen lebt in einem BRK-Pflegeheim im Landkreis Starnberg. Sie möchte nicht, dass ihr Name oder der Name der Einrichtung in der Zeitung steht, weil sie fürchtet, dass sich die Situation für ihn dadurch verschlechtern könnte. Denn schon jetzt leide er sehr. „Er ist sehr freiheitsliebend, war immer gern spazieren“, erzählt sie. Seit Mitte März darf er das nicht mehr. Um ihn zu schützen. Schiller kann darüber nur den Kopf schütteln. „Ein Spaziergang wäre doch nicht gefährlich.“ In seinem Heim gibt es kaum Grünanlagen, die Zimmer haben keinen Balkon. „Er leidet extrem, fühlt sich wie im Gefängnis“, berichtet Schiller. „Holt mich hier raus, ich halte es nicht mehr aus“ – diesen Satz hat er schon ein paar Mal am Telefon zu ihr gesagt.

Für Schiller ist es schwer zu ertragen – selbst seit das Besuchsverbot gelockert wurde. „Weil es nicht genug Räumlichkeiten gibt, können wir ihn nicht täglich besuchen“, erklärt sie. „Und die Besuche sind eher traurig, als dass sie ihm Freude bereiten.“ Sie können keinen Kaffee zusammen trinken, nicht mal Obst darf sie ihm gerade mitbringen – und in den Arm nehmen oder berühren schon gar nicht. „So stelle ich mir Besuche in der Strafanstalt vor“, sagt sie. Es fühle sich wie „Pflegehaft“ an, sagt Schiller. „Er hat seine ganzen Freiheitsrechte verloren.“

Bei dem Münchner Pflegeexperten Claus Fussek häufen sich die Anrufe verzweifelter Angehöriger. „Die Angst vor dem Virus ist in allen Einrichtungen groß“, sagt er. Doch sie müssten kreativer sein, um Lösungen zu finden, damit die Senioren nicht vereinsamen, fordert er. Einigen Heimen gelinge das – aber in einigen gebe es absurde Regeln und Gefängnis-ähnliche Zustände. Was Fussek ebenfalls große Sorgen bereitet: „Viele Angehörigen haben sich intensiv um die Pflegebedürftigen gekümmert, sie gefüttert, dafür gesorgt, dass sie genug trinken.“ Auch das falle aktuell weg. „Die Pflegekräfte können das nicht auffangen“, sagt er. Deswegen sei zusätzliches Personal nötig.

Auch Ralf Schütt macht sich aktuell große Sorgen um seine Mutter. Bis zu seinem Ruhestand hat er selbst in der Pflege gearbeitet. Er weiß, dass seine demenzkranke Mutter nicht trinkt, wenn man sie nicht ständig daran erinnert. „Sie hat sehr abgebaut, seit sie keinen Besuch mehr bekommen kann“, erzählt er. „Wir sind fast verrückt vor Sorge.“ Denn einer demenzkranken 83-Jährigen ist schwer zu erklären, warum plötzlich niemand mehr kommt. „Zu ihrem Geburtstag im April gab es eine Ausnahme“, erzählt er. Sein Bruder durfte ihr durch die verspiegelte Glastür winken. „Das war wie eine Strafe – und für sie noch schlimmer, als wenn sie ihn gar nicht gesehen hätte.“ Auch jetzt könnten die kurzen Besuche das nicht auffangen. „Es sind ja nicht mal Berührungen möglich“, sagt Schütt. Auch er fürchtet, dass seine Mutter durch Corona ihren Lebensmut verloren hat.

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