Man benutzt sie täglich, aber welchen Ursprung Redensarten haben, ist uns oft gar nicht bekannt. Der im bayerischen Bamberg lebende Germanist Rolf-Bernhard Essig hat bereits zahlreiche Bücher über Redensarten veröffentlicht. In seinem neuen Buch „Hand aufs Herz“ (Duden Sprachwissen, 10 Euro) erklärt er beliebte Redensarten von Kopf bis Fuß – damit wir künftig auch genau wissen, wovon wir reden. Hätten Sie das alles gewusst?
Für jemanden den Kopf hinhalten
Wer das tut, nimmt die Strafe eines anderen auf sich oder übernimmt für dessen Tun die Verantwortung. Die Redensart kommt aus der Rechtsprechung. „In seltenen Fällen erhielten früher zum Tode Verurteilte die Gnade, zuvor noch etwas in Freiheit zu erledigen“, schreibt der Autor. An ihrer statt inhaftierte man einen Freund oder Verwandten, der mit seinem Leben für die Rückkehr des Verurteilten bürgen musste.
Den Schalk im Nacken sitzen haben
Das sagt man über humorvolle und zu Scherzen aufgelegte Menschen. Die Redensart entspringe, schreibt Essig, der alten und weit verbreiteten Angst vor sogenannten Aufsitzdämonen. Schon in der Geschichtensammlung „1001 Nacht“ werden sie erwähnt. In Deutschland wurden diese Kobolde, Geister und Dämonen „Schalk“ oder „Springer“ genannt. Man sagte, sie säßen den Menschen auf den Schultern, schlängen die Beine um deren Genick, missbrauchten sie als Reittier und verführten sie zu widernatürlichen, verrückten oder lächerlichen Handlungen.
Das Gesicht verlieren
„Die Redensart übernahm das Abendland vor allem aus China und Japan“, schreibt der Autor. Dort sehe man das „Gesicht“ als individuellen Besitz mit sozialer Bedeutung. Dieser Besitz kann durch Ansehen, Lob, Erfolg oder Vertrauensgewinn wachsen, im negativen Fall sich aber auch mindern. Das Gesicht entspricht in diesem Sinn dem Charakter, der Würde und dem Ruf eines Menschen. „Der Verlust des Gesichts galt einst als außerordentlich schwerwiegend, kaum reversibel und zog oft massive Verachtung, ja Ächtung, und damit den ,sozialen Tod‘ nach sich.“
Holzauge, sei wachsam
Es gibt verschiedene Erklärungen für die Redensart, die zur besonderen Wachsamkeit aufruft. „Auf der Harburg zwischen Nördlingen und Donauwörth zeigt man zur Erklärung große durchbohrte Holzkugeln, die zur Feindbeobachtung drehbar in Schießscharten gelagert sind. Bei Burgführungen heißt es auch, Gucklöcher in Burgtoren seien der Ursprung“, sagt Essig. Beides sei aber falsch. Die Wendung sei erst im Ersten Weltkrieg in der Soldatensprache entstanden. Damals, so der Autor, habe man bei Invaliden zu Tausenden Holzprothesen gesehene und in Analogie statt von Glas- von Holzaugen gesprochen. „Wahrscheinlich wurde daraus beim Kartenspiel, wo sich der Spruch bis heute besonders hält, die Redensart für intensivste Aufmerksamkeit.“ Dazu passt, dass die Redensart durch das Herabziehen des Augenunterlids mit meist nur einem Finger unterstützt wird.
Ein Haar in der Suppe finden
Haare im Essen galten schon seit dem 17. Jahrhundert als ziemlich ekelerregend. In einer klaren Suppe waren sie leicht zu sehen. Weil ein Haar im Vergleich zur Menge einer Suppe unerheblich war und ein Fund auch häufig vorkam, galt, wer sich aufregte, als unangenehmer, kleinlicher, überkritischer Mensch.
Sich für den Nabel der Welt halten
„Für die alten Griechen gab es den Nabel der Welt ganz konkret und zwar in Delphi“, schreibt Essig. Im dortigen Heiligtum zeigte man den Omphalos-Stein, wörtlich übersetzt „Nabel-Stein“, der den Ort markierte. Die Römer übernahmen die Vorstellung, verlegten den Nabel der Welt aber nach Rom. Wer sich für den Nabel der Welt hält, gilt heute als extrem eingebildet.
Ein Schlitzohr sein
Betrüger bestrafte man seit dem hohen Mittelalter vielerorts mit dem Einschlitzen des Ohres – um sie für ehrliche Bürger schnell und einfach erkennbar zu machen. Seit dem 19. Jahrhundert veränderte sich die Bedeutung zunehmend hin zu einem Lob für eine Person, die gerne lustige Streiche spielt oder zu gewitzten Scherzen aufgelegt ist.
Blaues Blut in den Adern haben
Der Begriff, der die adelige Herkunft eines Menschen beschreibt, kommt aus Spanien. Vor allem für adelige Frauen gehörte es sich, im Haus zu bleiben und die Sonne zu meiden. So blieben sie eher blass – und man sah zuweilen an den Schläfen die Venen blau durchschimmern. Diesen angeblichen Adelsnachweis nannte man „sangre azul“, „blaues Blut“. Der Ausdruck verbreitete sich spätestens mit der Übersetzung spanischer Klassiker im 18. Jahrhundert auch in Deutschland.
Einen Fuß in der Tür haben
Die Wendung geht laut Essig auf zudringliche Hausierer zurück, die frech – kaum ist die Tür geöffnet – ihren Fuß in die Tür setzen, damit sie nicht einfach wieder geschlossen werden kann.
Sich etwas hinter die Ohren schreiben
Vom frühen Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hielt sich laut Essig ein alter Brauch beim Setzen von Grenzsteinen. Man nahm einen Jungen mit, wies ihn extra deutlich auf die Position des Grenzsteins hin, gab ihm etwas Geld – und dann eine Ohrfeige. Oder man zog ihn kräftig am Ohr. Der überraschende Schmerz sollte ihm als Gedächtnisstütze dienen. Man nannte das launig „etwas hinter die Ohren schreiben“.
Gschert daherreden
Vor allem in Bayern und Österreich ist die Redensart verbreitet. Wer gschert daherredet, gilt als ungebildet und primitiv. Die Redensart spiele auf die seit dem hohen Mittelalter und über Jahrhunderte übliche, teils gesetzlich vorgeschriebene Haartracht an, schreibt der Autor. Die als primitiv geltenden Bauern, Knechte und das einfache Volk trugen das Haar geschoren. Nur Adligen und Patriziern war langes Haar erlaubt. Zudem war schon seit der Antike das Scheren des Kopfes als Gerichtsstrafe üblich. Diese Geschorenen galten nicht nur als Übeltäter, sondern eben auch als primitiv.
Einen sechsten Sinn haben
Hören, Riechen, Schmecken, Sehen, Tasten – fünf Sinne hat der Mensch. „Früher aber glaubte man, prophetisch begabte Menschen, Wünschelrutengänger und Wunderheiler besäßen einen Extrasinn“, sagt Essig. Dieser „sechste Sinn“ ermöglichte es ihnen angeblich, in die Zukunft zu sehen, die Geisterwelt wahrzunehmen – oder Informationen aus der Natur, für die unsere fünf Sinne unempfindlich sind. Heute beschreibt die Redensart einen ungewöhnlichen Instinkt für Vorteile aller Art.
Ein Naseweis sein
Ein guter Spürhund weist mit seiner Nase dem Jäger den Weg zur Beute. Daraus entstand das Wort „naseweis“. „War das Vorwärtsdrängen beim Hund ein Qualitätsmerkmal, empfand man es im 16. Jahrhundert bei Menschen, die sich in den Vordergrund drängten, als unangemessen“, schreibt Essig. Schon im 19. Jahrhundert bezog sich die Redensart durchweg auf vorlaute, altkluge Kinder.
Jemandem die Daumen drücken
Das Daumendrücken ist uralt. Als magische Geste sollte sie in der Antike die dämonische Macht des Daumens bannen und andere vor üblen Einflüssen durch diesen „fluchmächtigen“ Finger bewahren. Damit zeigte man jemandem indirekt sein Wohlwollen, was dann alleiniger Sinn der Geste wurde. „Durch Historiengemälde und Filme verbreiteten sich ab dem späten 19. Jahrhundert angeblich römische Gnaden- und Todesgesten bei Gladiatorenkämpfen“, schreibt Essig. Hielten Herrscher und Publikum den Daumen nach unten, habe das „das Schwert“, also den Tod bedeutet, der zwischen die Finger eingeschlagene Daumen dagegen Glück und damit Gnade. „Allerdings sind beide Gesten unter Fachleuten umstritten. Zwar ist die Glücksgeste vielfach überliefert und könnte gezeigt worden sein, doch ob der ausgestreckte Daumen in der Arena tatsächlich nach oben oder unten gehalten wurde, ist unklar“, so Essig.
Jemandem etwas anhängen
Das macht man, wenn man jemanden beschuldigt oder gar vor Gericht zerrt. Hierzulande, so der Autor, sei es bis weit ins 18. Jahrhundert und teils noch darüber hinaus üblich gewesen, „Straftätern Schandzettel mit ihren Vergehen wie eine Steinflasche für Trunksucht oder einen Steinpenis für Herumhuren um den Hals zu hängen, sie damit durch den Ort zu führen und schließlich an den Pranger zu stellen“.
Sich etwas aus den Fingern saugen
Die Redensart steht für: sich etwas ausdenken, lügen. Zum Ursprung gibt es verschiedene Erklärungen. Eine ist die Beobachtung, dass nachdenkende Menschen oft die Finger an den Mund legen. Spanender ist der Blick ins späte Mittelalter. Fingern, schreibt Essig, wurden dämonische Kräfte zugeschrieben. Es existierte die Vorstellung, sie könnten etwas mitteilen und Ratschläge geben. Die Kirche beurteilte das negativ und so entstand die Bedeutung „gelogen, bloß ausgedacht“. Seit der Antike kursierte zudem die Behauptung, dass Bären sich im Winterschlaf Nährmilch aus den Pfoten saugen.
Die Füße unter jemandes Tisch strecken
Bis weit ins 20. Jahrhundert war die Tischgemeinschaft hierarchisch. Es bestimmte erst der Vater, dann die Mutter. Kinder, Mägde und Knechte, so Essig, hatten zu gehorchen. Die Bindung bestand bis zum Ende der Tischgemeinschaft durch Volljährigkeit, Lehre oder Studium. Heute wird die Redensart meist ironisch verwendet.