Eine Brieffreundschaft unter Schwestern

von Redaktion

ALTE SCHRIFTSTÜCKE UND IHRE GESCHICHTEN Zwei Schnellhefter voller Kindheitserinnerungen

Zorneding – Annemarie Zehetmayrs Schwester Margot hat die Vergangenheit ordentlich abgeheftet. Brief für Brief, zwei Schnellhefter sind voll geworden. Und in den vergangenen Wochen war Zehetmayr ihrer Schwester jeden Tag dankbar für diese Mühe. Denn die Erinnerungen sind sehr wertvoll für sie – und seit Margot im April starb, sind sie unersetzlich.

Der Grund, warum sie und ihre beiden Schwestern Margot und Renate in den 1960er-Jahren so viele Briefe geschrieben haben, war eine schwere Krankheit. „Als Margot zehn Jahre alt war, bekam sie eine Gehirnhautentzündung“, erzählt Annemarie Zehetmayr. Sie selbst war damals neun, die älteste Schwester Renate zwölf. 18 Monate lang wurde Margot in einem Sanatorium in Ruhpolding behandelt. Die Schwestern durften sich in dieser Zeit nicht sehen, die Eltern konnten sie zwar besuchen, durften aber nur durch eine Glasscheibe mit ihr reden. Margot bekam Kortison und musste viele Rückenmarkspunktionen ertragen, neun Monate lang durfte sie das Bett nicht verlassen. Es war eine schwere Zeit für die ganze Familie. Die Chancen, dass Margot wieder ganz gesund werden würde, standen nur 50 zu 50.

„Alle zwei Wochen sind wir von Zorneding nach Ruhpolding gefahren“, erzählt Annemarie Zehetmayr. Während die Eltern Margot besuchten, mussten sie und Renate im Auto warten. Um zumindest ein wenig mit ihrer Schwester in Verbindung zu bleiben, schrieben sie Briefe. Und genau diese Briefe hat Margot ihr ganzes Leben lang wie einen Schatz gehütet.

Liebe Maggy! schrieb Annemarie Zehetmayr am 11. Juli 1966 ordentlich mit Füller auf ein Blatt Briefpapier. Heute kommt mein zweiter Brief. Hast Du meinen ersten Brief überhaupt bekommen? Gerade ist Mama mit Papa gekommen. Mama möchte den Führerschein machen. Einmal ist sie schon mit Albert dem Fahrschullehrer von Heufeld von Zorneding nach Glonn und zurück gefahren. Es ist ihr ganz gut gegangen. Eines schönen Tages wird die Mama selber mit einem schneidigen Sportcoupé angerast kommen. Es sind ganz alltägliche Dinge, die sie sich schrieben. Renate teilte manchmal ihr Leid mit ihr, wenn die Löwen ein Spiel verloren hatten – oder sie schrieb ihr eine Liste ihrer „Hits der Woche“. Annemarie berichtete von den Katzen oder von den Proben in der Schule. Das Briefpapier habe ich zum Geburstag bekommen und Du bist die erste, die einen Brief dafon erhält. Das musst du nähmlich als Ehre berechnen. In der Schule müssen wir Socken stricken. Ich glaube, das die im Winter erst fertig werden.

Annemarie Zehetmayr hat die Briefe in den vergangenen Wochen immer wieder gelesen. Oft musste sie lächeln. „Welchen Käse wir uns geschrieben haben“, sagt sie. Wie schwer krank ihre Schwester war, hat sie erst viel später verstanden.

Doch die Beziehung der beiden jüngsten Schwestern ist durch die Krankheit noch viel intensiver geworden. „Wir waren nur elf Monate auseinander“, sagt Zehetmayr. „Als Margot wieder nach Hause kam, waren wir plötzlich für einige Jahre in derselben Klasse.“ Und auch nach der Schulzeit blieben die beiden eng verbunden. „Wir hatten dieselbe Clique, haben uns gemeinsam unser erstes Auto gekauft.“

Als sich die beiden vergangenes Jahr im Herbst trafen, brachte Margot ihr die Briefe mit. Die beiden lasen gemeinsam darin, lachten viel. Eigentlich wollte Annemarie Zehetmayr ihrer Schwester die Briefe längst zurückgeben. Dann kam Corona dazwischen. Und im April ist Margot ganz plötzlich und unerwartet an Herzschwäche gestorben.

Annemarie Zehetmayr kann es noch gar nicht glauben. „Margot war immer da“, sagt sie. Selbst in den 18 Monaten, als sie nicht da war. „Wir haben uns immer ohne Worte verstanden.“ Jetzt, in ihrer Trauer, ist sie manchmal sogar dankbar dafür, dass es in ihrer Kindheit die lange Trennung gab. „Sonst hätte ich heute diese Briefe nicht.“ Durch sie fühlt es sich an, als wäre ein Teil von Margot immer bei ihr. KATRIN WOITSCH

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