Warngau/Freising – Der Funkspruch geht um 18.35 Uhr ein: schweres Zugunglück bei Warngau, zwei Züge frontal kollidiert, Zahl der Toten und Verletzten: unbekannt, vermutlich sehr hoch. Erwin Prechl und sein Kollege Günter Höcherl tauschen einen Blick. Die beiden haben Dienst in der BRK-Einsatzzentrale in München. Werktags ist sie mit sieben Mann besetzt. Aber heute ist Sonntag – und ein Kollege ist krank geworden. Die beiden sind zu zweit an diesem Tag – und ahnen, dass es ein Dienst wird, den sie ihr Leben lang nicht vergessen werden. Sie müssen nun von München aus die Koordination übernehmen.
Erst später erfahren sie, was an diesem 8. Juni 1975 genau wenige Minuten vor dem Funkspruch in Warngau (Kreis Miesbach) passiert ist. Die Bahnstrecke zwischen Holzkirchen und Lenggries ist 1975 noch eingleisig, der Sommerfahrplan ist seit wenigen Tagen in Kraft. Er legt nicht fest, in welchem Bahnhof sich die Züge begegnen. Es gibt auf der Strecke keinen Streckenblock, der verhindert hätte, dass zwei Fahrdienstleiter das Signal auf Fahrt stellen. Es kommt zu einem katastrophalen Missverständnis: Die beiden Fahrdienstleiter reden bei der Absprache aneinander vorbei. Beide wollen ihren Zug anbieten, beide gehen davon aus, der andere habe den Zug angenommen. Als sie den Irrtum bemerken, können sie die Kollision nicht mehr verhindern, denn 1975 gab es noch keinen Funkkontakt zu den Lokführern. Die beiden Eilzüge 3594 und 3591 prallen um 18.31 Uhr zusammen.
Schon wenige Minuten später überschlagen sich die Meldungen auf dem Polizeikanal 441. Prechtl hat ein Reservefunkgerät auf diesen Kanal umgeschaltet, um die Lage besser einschätzen zu können. Dann kommt der Funkspruch des Rettungshubschraubers, der an der Unglücksstelle angekommen ist: „Schickt alles, was ihr schicken könnt!“
„Heute drückt man in der Einsatzzentrale auf einen Knopf und kann so mehrere außerdienstliche Fahrzeuge alarmieren“, sagt Prechtl. Damals war die Koordination eines Großeinsatzes um einiges schwieriger – besonders an einem Sonntag. Das bayernweite Rettungsstellen-Netz gibt es noch nicht. 1975 mussten Prechtl und seine Kollegen teilweise noch mit den umliegenden Rettungswachen einzeln Kontakt aufnehmen. Sie müssen telefonisch anfragen, ob noch zusätzliche Fahrzeuge bereitgestellt werden können. Und weil die meisten BRK-Dienststellen damals noch keine eigenen Einsatzzentralen hatten, gingen die Notrufe am Wochenende zu Hause bei dem Diensthabenden ein. Oder bei deren Ehefrauen. So war es auch beim Kreisverband Miesbach. Alle Kräfte waren bereits zur Unglücksstelle unterwegs. „Die Frau des Diensthabenden war mit dem Telefondienst verständlicherweise überfordert“, sagt Prechtl. „Einer allein hätte die Koordination nie nicht schaffen können.“
Damals war zwar bereits beschlossen, dass in Bayern 26 Rettungsleitstellen aufgebaut werden sollen – doch im Juni 1975 gibt es erst eine einzige in Aschaffenburg. München ist damals die größte Einsatzzentrale. Für eine Katastrophe wie diese ist sie zwar an diesem Sonntag hoffnungslos unterbesetzt, trotzdem übernehmen Prechtl und Höcherl die Koordination. „Es gab damals in ganz Bayern nur einen einzigen Rettungshubschrauber“, sagt Prechtl. Keine Computer, keine Handys. Prechtl muss alles per Hand ins Einsatztagebuch eintragen. Schon kurze Zeit später blinken alle Telefone gleichzeitig rot. Prechtl und Höcherl müssen eine Entscheidung treffen. Um oberbayernweit alle Einsatzkräfte gleichzeitig erreichen zu können, stellen sie eigenmächtig auf den Funkkanal 412 um. Höcherl schickt per Funk alle Rettungsteams an die Unglücksstelle, Prechtl bedient die Telefone. Er notiert Aufnahmekapazitäten der Krankenhäuser, koordiniert die Krankenwagen mit den Verletzten, kann sechs weitere Hubschrauber von Polizei, Bundeswehr und Bundesgrenzschutz losschicken und beruhigt Angehörige, die verzweifelt um Auskunft bitten.
Heute ist Prechtl 76, sein Kollege Günter Höcherl ist vor einigen Jahren gestorben. „Wir beide haben damals einfach funktioniert“, sagt der Freisinger. Zum Nachdenken blieb keine Zeit – das kam erst später. Sie verabschieden sich an diesem Tag mit einem Handschlag. „Für heute habens wir’s erstmal geschafft“, sagt Prechtl.
Erst am nächsten Tag erfähren die beiden, dass bei der Katastrophe 41 Menschen ums Leben kamen und 126 verletzt wurden. Die 27 und 39 Jahre alten Fahrdienstleiter bekommen später Freiheitsstrafen. Seit dem Zugunglück gibt es keine Luftkreuzungen im Fahrplan mehr. Prechtl und Höcherl haben für ihren Dienst damals viele Dankesbriefe bekommen. Prechtl hat sie alle noch, gelegentlich schaut er sie noch mal an. Den 8. Juni 1975 wird er aber auch ohne Erinnerungsstücke nie vergessen, sagt er. „Das bleibt ein Leben lang.“