Was ein „süßer Schneck“ ist, gerät in München allmählich in Vergessenheit. Der Maßschneider hat einst manchen süßen Schneck gekannt. Wer darf eigentlich ois süßer Schneck gelten? Gewiss keine großartige Fahnenträgerin der Emanzipation, schon eher eine hübsche Verkäuferin in einem Schuhgeschäft. Helene Sedlmayer zum Beispiel, eine Schusterstochter aus Trostberg, war ein süßer Schneck, und König Ludwig I., ein Süßer-Schnecken-Verehrer, hat sie deshalb auch prompt für seine Schönheiten-Galerie malen lassen.
Zu einem süßen Schneck gehörte eine große Portion Treuherzigkeit, und das ist wohl auch der Grund, warum in einer Zeit, in der kesses Auftreten das halbe Leben ist, süße Schnecken kaum noch anzutreffen sind.
Süße Schnecken trugen früher oft selber süße Schnecken, und das waren um die Ohren herumgedrehte Zöpfe. Auch aß ein süßer Schneck mit Vorliebe süße Schnecken, und das wiederum waren (und sind) von Bäckerhand geformte Rundlinge, bei denen der mit Weinbeerl angereicherte Teig schneckenförmig gedreht ist. Man kann in solche Schnecken entweder kurzentschlossen hineinbeißen oder sie von außen nach innen bedächtig aufrollen. Dann gibt es noch die Weinbergschnecken, zu denen dem Maßschneider spontan der Satz „d’ Katz frisst Maus, i möchts net!“ einfällt.
In besseren Kreisen gelten natürlich die Weinbergschnecken als Delikatesse, und der Spruch „Schneckn in da Buttersoß“ drückt deutlich aus, dass es sich um etwas handelt, von dem gewöhnlich Sterblichen der Schnabel sauber zu bleiben hat. Das Traurigste, was über Schnecken gesagt werden kann, folgt jetzt, und zartfühlende Naturen sollten die Lektüre hier abbrechen. Der Maßschneider spricht von den ganz gewöhnlichen Garten-Schnecken, jenen unappetitlichen Untieren in braunen SA-Uniformen, die leider nicht im Schnecken-, sondern im Eilzugstempo die zarten Salat- und Gemüsepflanzerl zu traurigen Blattgerippen verkommen lassen. Untertags halten sich diese Bestien klug versteckt. Erst wenn die Dunkelheit auf die Beete sinkt, schlüpfen sie aus ihren Winkeln und beginnen heißhungrig zu mampfen. Wer wenigstens ein bisschen was ernten will, der muss, will er sein Stückchen Gartenerde nicht mit giftigen Körnern bestreuen, jede Nacht zur Schnecken-Safari ausrücken. Am besten zu zweit. Denn wer kann schon gleichzeitig einen Kübel, eine Greifzange und eine Taschenlampe handhaben? Es ist ein gespenstisches Bild, wenn man im Schein der Taschenlampe die Stauden absucht, und wenn sich beide noch mit Leintüchern umwickelten, würden die Nachbarn hinter ihren Schlafzimmerfenstern bestimmt das Gruseln bekommen.
Natürlich hat der Maßschneider auch Schneckenfallen aufgestellt, das sind Plastiktöpfchen, die man mit Bier füllt und mit denen die alkohollüsternen Kriecher zum Tode durch Ertrinken ermuntert werden sollen. Er hat es schon mit Spaten, Augustiner, Paulaner und Hacker-Pschorr versucht, auch mit diversen Landbieren. Und er hat keine Kosten gescheut und sogar zu Märzen und Doppelbock gegriffen. Der Erfolg hielt sich jedoch in Grenzen und konnte die Eigenjagd niemals ersetzen. Leider kann der Maßschneider jene Brauerei, die bei seinem Text noch am besten abschnitt, aus Wettbewerbsgründen nicht nennen. Was tut man nun mit den gefangenen Schnecken, wenn sie einem Dallmayr partout nicht abkaufen will? Da gibt es Leute, die bringen sie mit einer Schere zu Tode und schneiden sich mit ihr später seelenruhig wieder die Fingernägel. Andere bestreuen sie mit Salz, was ihnen ebenfalls übel bekommt. Die Maßschneiderin aber, Gott sei’s geklagt, übergießt sie mit kochendem Wasser, worauf sie der Maßschneider mit einem unguten Gefühl der städtischen Kanalisation anvertraut.
Alternativ und von hoher Tierliebe beseelt macht es eine Nachbarin. Sie radelt ihre Beute am nächsten Morgen in den Wald hinaus und setzt sie dort im Unterholz aus. Wahrscheinlich zur Freude von Igeln, Mardern und Nachteulen. Gerade weil der Maßschneider in manchen Nächten eine „Strecke“ von vierzig Gartenschnecken zu verzeichnen hat, kann er abschließend sagen, dass der Fang von einem einzigen süßen Schneck sehr viel mehr Freude macht. Er wird sich jedoch hüten, hier auch noch die Geheimnisse dieser Schneckenjagd auszuplaudern.
An dieser Stelle schreibt unser Turmschreiber