Am Markt drängeln Mädchen, um zu sehen, was es an der Kuchentheke gibt. Die Dame, die gerade bedient wird, bittet um etwas mehr Abstand. Darauf gibt es keine Reaktion. Eine Frau schiebt in der Trambahn die Maske aus dem Gesicht – so telefoniert es sich einfach besser. Die höfliche Anregung, das Gespräch später zu führen und jetzt die Maske aufzusetzen, wird ignoriert. Der Herr von der Münchner Verkehrsgesellschaft, der in den Wagen stürmt, trägt auch keine Mund-Nasen-Bedeckung. Er kramt erst viel später danach, um sie anzulegen.
„Jetz geht’s dahi“, sagt der Bayer, wenn etwas mindestens sehr schwierig wird. Oder es gar um das bald bevorstehende Lebensende geht. Beides ist in Corona-Zeiten nicht völlig ausgeschlossen – und zwar für niemanden. Aber diese Einsicht, die anfangs nicht nur einen Volksstamm, sondern ein ganzes Land zusammengehalten hat, die schwindet peu à peu. Gar nicht so wenig Menschen fühlen sich persönlich belästigt von der Aufgabe, das zu tun, was allen nützt. Regeln? Nicht für mich. Die individuelle Freiheit steht wieder im Vordergrund.
Diejenigen, die noch vor Wochen harsch Kritik an solchem Verhalten geübt hätten – sie wirken zögerlich. Soll man etwas sagen? Wie wird die Reaktion sein? Stuttgarter und Frankfurter Verhältnisse stehen einem vor Augen und man ist sich nicht sicher, ob die anfangs fraglose Solidarität noch besteht. Die Stimmung scheint zu kippen, weil die gemeinsame Bedrohung nicht mehr tagesaktuell wirkt und Menschen, die sie klugerweise in Erinnerung halten, einfach nur nerven. Jedenfalls dann, wenn man selber einfach keine Lust hat auf Ausnahmezustand.
Man kann verstehen, dass Menschen gleich welchen Alters innere Anspannung und Sorge vor einer Ansteckung nicht auf einem Dauerhoch halten wollen und können. Das funktioniert nicht. Eine gewisse Normalität stellt sich ein, bei manchen auch Gleichgültigkeit oder eben Aggression. Weg mit dem störenden Gedanken an Lebensgefahr – vor allem, wenn sie einen anscheinend nicht selbst trifft.
Es wäre zudem eine Illusion, zu glauben, alle Bürgerinnen und Bürger würden fortan Seite an Seite schreiten, um dem Virus gemeinsam zu trotzen. Das könnte in einem totalitären Staat klappen – in der Demokratie nicht. Jeder und jede hat eine eigene Haltung zu Einschränkungen und Lockerungen, es gibt unterschiedliche wissenschaftliche Aussagen und diverse politische Auffassungen. Die sind ohne Rücksicht auf ihre Qualität auszudiskutieren – emotional und rational. Damit vielleicht doch die Mehrheit weiterhin mit Hirn und Herz mitkommt. Und es nicht dahingeht, sondern zuversichtlich in die Zukunft.
*Susanne Breit-Kessler ist Vorsitzende des bayerischen Ethik-Rates. Ihre Kolumne erscheint alle zwei Wochen.