„Guat schaugst aus. Bist krank?“ Wenn dem Maßschneider jemand so hinterfotzig dummdreist und unlogisch kommt, lächelt er gequält und bleibt die Antwort schuldig. Was er jetzt möchte, ist zweierlei: Einmal diesem Kerl die Krawatte nachbinden, und zweitens in einen Spiegel schauen, ob er wirklich so marode aus der Wäsche schaut.
Mit unüberlegten und erst recht mit absichtlich boshaftschadenfrohen Worten kann man seinen Mitmenschen ganz schön zusetzen. Dass wir, aus was für Gründen auch immer, etwas blass um das Nasenspitzl sind, wissen wir selber, daran brauchen uns die andern nicht ständig zu erinnern!
Oh ihr scheinheiligen Mitleid-Heuchler, ihr Besorgnis vortäuschenden Pharisäer! Ob uns was Ernsthaftes fehle, fragt ihr, mit flinken, lüsternen Augen, was um Himmels willen mit uns los wäre, so wie wir aussähen, mit diesen Ringen unter den Augen, und ob wir nicht vorsichtshalber einen Arzt aufsuchen sollten. Oder seien wir vielleicht von seelischem Kummer bedrängt? Ist es da ein Wunder, wenn wir nun noch mehr in uns zusammensacken, die letzte Röte aus unserem Gesicht weicht, die Schultern nach vorne fallen und die Nasenflügel zu zittern beginnen?
Diese Unmenschen bringen es fertig, aus unserem kleinen Wehwehchen eine schwere unheilbare Krankheit zu machen! Um sie zu beruhigen, gestehen wir, bereits in ärztlicher Behandlung zu sein. Und da haken sie sogleich mit der Frage nach, ob bei unserem Aussehen der betreffende Weißkittel wohl auch der richtige Mann wäre. In unserem Fall sei eine gründliche Untersuchung angezeigt. Am besten im Großklinikum.
Selbst diejenigen, die es besser mit uns meinen, bringen es nicht übers Herz, uns ohne Vorbehalte gut zuzureden. Sie sagen nicht, dass wir heute gesund, frisch und erholt aussähen, sondern „nicht mehr ganz so schlecht wie gestern“.
Dabei ist es doch so leicht, ein barmherziger Guru, ein Wohltäter mit dem Wort zu sein! Der Maßschneider hat es sich längst angewöhnt, potenzielle Kopfhängenlasser mit flotten Sprüchen, die nicht immer der reinen Wahrheit entsprechen müssen, wieder aufzurichten. Die kleine Maus, stressgeplagt und sichtlich verbittert über Querelen im Büro, bekommt von ihm geflüstert, dass sie mit Abstand die Hübscheste weit und breit sei und ob sie vielleicht gerade aus dem Urlaub komme, weil sie so blendend aussehe. Und siehe da: Sogleich röten sich ihre blässlichen Wangen, die Augen bekommen Leuchtkraft und die Mundwinkel, gerade noch auf Halbmast, formen sich zu einem schelmischen Lächeln.
Ja, so leicht wäre es, so einfach ist es! Als der Maßschneider später den Herrn Habergeiß griesgrämig über die Straße hatschen sieht, ruft er ihm aufmunternd nach: „Immer vital, immer sprühend, immer blühend!“ Doch was wird dem Aufmunterer zur Antwort? „Was man nun von Ihnen wirklich nicht behaupten kann!“ Allerhand, gell? Beim Maßschneider war damit jedenfalls die Schmerzgrenze erreicht. Er vergaß seinen selbstgewählten Grundsatz und rief dem Herrn, der in der vergangenen Woche seinen 50. Geburtstag gefeiert hatte, spitz nach: „Und nachträglich noch alles Gute zum 65. Geburtstag! Aber in Wahrheit sehen Sie mindestens um zwei Jahre jünger aus!“
Wenn sich einer vom Maßschneider partout nicht aufbauen lassen will, dann soll er wenigstens ordentlich niedergemacht werden!
An dieser Stelle schreibt unser Turmschreiber