Krailling – Ganz sicher weiß es natürlich niemand. Aber zumindest eine alte Postkarte deutet darauf hin, dass Ilse Gille es ihrem Bruder verdankt, dass sie noch am Leben ist. Vielleicht hat er sie vor dem Verhungern bewahrt, als er sich im November 1944 hinsetzte und seiner Oma eine Karte schrieb: Liebe Oma! Sei bitte so gut und schick uns für Ilschen zwei Natura Sauger, wir können hier keine bekommen und sonst muß Ilschen verhungern. Viele Grüße, Dein Peter
Es hat funktioniert. Die Sauger kamen, Ilse Gille hat überlebt – und muss noch heute jedes Mal schmunzeln, wenn sie die Karte in die Hände bekommt. Denn ganz so dramatisch war die Situation damals vermutlich nicht. Sie kam als fünftes Kind zur Welt, 1944, als der Zweite Weltkrieg noch wütete und ihre Familie gerade von Berlin nach Ilsenburg in den Hartz geflüchtet war. Die Not war damals groß. „Dazu kam, dass meine Mutter nicht genug Muttermilch für mich hatte“, erzählt sie. Ihr Bruder Peter war damals elf – und beobachtete die Situation offensichtlich mit großer Sorge. „In Ilsenburg konnte meine Familie damals wohl keine Sauger bekommen“, berichtet die 75-Jährige. „Aber meine Oma hatte in Berlin einen Laden, in dem sie unter anderem Nuckelflaschen verkaufte.“
Die Geschichte zu der Postkarte kennt Ilse Gille nur aus Erzählungen. Aber wie sie ausgegangen ist, war nie ein Geheimnis. „Die Sauger sind offensichtlich angekommen“, sagt sie und lacht herzlich. „Ich habe mich gut entwickelt.“
Ihre Oma hatte die Karte immer aufbewahrt. Als sie starb, kam sie in die Hände von Gilles Tante, dann in die ihres Bruders – und der hat sie ihr irgendwann einmal zum Geburtstag geschenkt. Ilse Gille hat sie in ihr Fotoalbum geklebt. Zu den Familienfotos. „Es ist schließlich die einzige Erinnerung, die es an meine Baby-Zeit gibt.“ KATRIN WOITSCH