München – Der Prozess begann denkbar unglücklich. Stundenlang warteten die Journalisten an jenem tristen 30. November 2009 vor dem Münchner Landgericht auf Einlass, eingepfercht in einem Bereich, der als „Demjanjuk Sammelzone“ gekennzeichnet war. Als dann endlich der Prozess im bis auf den letzten Platz besetzten Saal A101 begann, sahen sie einen Angeklagten, der sich halbtot stellte. Mit geschlossenen Augen, getarnt mit einer Kappe und in eine Wolldecke gehüllt, wurde John Demjanjuk, damals 89, auf einem Rollstuhl hineingeschoben. Er sagte in den eineinhalb Jahren, die der Prozess dauerte, kein Wort von Substanz. Außer leises Murmeln und Stöhnen hörte man nie etwas von dem Mann, der zweifellos etliche Gebrechen hatte, aber doch nicht so leidend war, wie er sich stellte.
Bis ihn das Gericht dann, am 12. Mai 2011, eines monströsen Verbrechens für schuldig befand: Fünf Jahre Haft für Beihilfe zum Mord an 28 060 Juden im NS-Vernichtungslager Sobibor mögen wenig erscheinen. Einige Beobachter waren damals entsetzt – auch darüber, dass Demjanjuk danach frei kam und bis zu seinem Tod im März 2012 frei blieb.
Und doch habe der Münchner Prozess damals „die Fähigkeit der Justiz demonstriert, aus Fehlern zu lernen“, urteilt nun der amerikanische Rechtswissenschaftler Lawrence Douglas in einem sehr klugen Buch zu den Demjanjuk-Verfahren. Douglas hat den Münchner Prozess damals vor Ort beobachtet. Als Amerikaner ist er auch mit den Unzulänglichkeiten des US-Rechtssystems vertraut und kann über die Aburteilung von NS-Verbrechen aus vergleichender Perspektive urteilen.
Unter Historikern ist es mittlerweile eine Binsenweisheit, dass die deutsche Justiz bei der Aburteilung von NS-Verbrechern im Ganzen grausam versagt hat. Allein die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hat zwar 120 000 Ermittlungsverfahren geführt. Aber es kam nur zu 5000 Prozessen und weniger als 600 Urteilen gegen NS-Verbrecher. Richtig ist aber auch, dass in die USA geflohene NS-Täter sich in Sicherheit wiegen konnten – denn für NS-Verbrechen wähnten sich US-Gerichte jahrzehntelang für nicht zuständig. Letztlich waren sie auch nicht in der Lage, Demjanjuk zu verurteilen – die einzige Handhabe gegen ihn waren die Ausbürgerung und Auslieferung.
Demjanjuk war seit 1952 in den USA, wo er als Arbeiter bei Ford ein zufriedenes neues Legen führte. Aber Mitte der 1970er-Jahre holte ihn die Vergangenheit ein. Was Douglas hier detailliert erzählt, ist eine spektakuläre Geschichte, die überladen ist mit Irrtümern und Unbegreiflichkeiten.
Es begann 1976, als Demjanjuk anhand alter Fotos durch Holocaust-Überlebende in Israel als „Iwan der Schreckliche“ identifiziert wurde. So hieß ein sadistischer Mörder im NS-Vernichtungslager Treblinka. 1986 wurde Demjanjuk aus den USA nach Israel überstellt. 1988 wurde er dort zum Tod verurteilt, jedoch nicht hingerichtet, weil die Zweifel an seiner Identität zunahmen. 1993 sprach der Oberste Gerichtshof ihn in einem „mutigen und notwendigen Schritt“ (Douglas) frei und flog ihn zurück in die USA.
Demjanjuk war verwechselt worden: Der wirkliche „Iwan der Schreckliche“ war wie Demjanjuk Ukrainer, hieß aber in Wahrheit Iwan Martschenko und war wohl bei Kriegsende am Balkan bei Kämpfen gegen Partisanen getötet worden.
Die Fehler der israelischen Justiz zeichnet Douglas schlüssig nach: Sie hatte sich auf die Aussagen von Holocaust-Überlebenden verlassen, die meinten, Demjanjuk identifizieren zu können. Indes, so der Rechtswissenschaftler: „Der Gedanke, Holocaust-Überlebende seien stärker gegen Irrtum gefeit als gewöhnliche Augenzeugen, mag verlockend sein, ist aber bloß ein Glaubensgrundsatz, der aus dem Bedürfnis erwächst, Menschen zu würdigen, denen Unsagbares angetan wurde.“
Die US-Justiz lernte aus diesem Irrtum. Die Ermittler vom Office of Special Investigations stellte Historiker ein und verließ sich nicht mehr auf Zeitzeugen, sondern auf schriftliche Dokumente, unter anderem Demjanjuks Dienstausweis, mit dem sein Wachdienst zwar nicht in Treblinka, wohl aber im NS-Vernichtungslager Sobibor belegt werden konnte. In Sobibor waren 1942/43 etwa 250 000 Juden ermordet worden, weniger als 50 überlebten. So kam es, dass Demjanjuk 2004 ausgebürgert und 2009 nach Deutschland ausgeliefert wurde.
Seine Verurteilung in dem Münchner Verfahren war, wie Douglas schreibt, gleichwohl nicht sicher. Jahrzehntelang hatte die deutsche Justiz schließlich NS-Täter freigesprochen, weil ihnen persönlich kein Mord nachgewiesen werden konnte. Bei Demjanjuk lief es anders, weil sich auch die deutsche Justiz Rat bei Historikern holte und so nachweisen konnte, „dass Sobibor ein reines Vernichtungslager gewesen sei, mit dem alleinigen Zweck, Juden zu ermorden“. Damit unterschied sich Sobibor sogar von Auschwitz, wo es auch Lagerabteilungen für Zwangsarbeiter gab. Für die Justiz war diese Erkenntnis ein Durchbruch: Denn „diese ausschließliche Funktion machte es (…) juristisch unerheblich, dass Demjanjuks konkretes Verhalten in Sobibor nicht dokumentiert war“. Demjanjuk war Wächter in Sobibor, folglich war er „am Vernichtungsprozess“ beteiligt – das war es, was zur Verurteilung führte.
Anders als 2011/12 angenommen, war Demjanjuks Verfahren nicht der letzte NS-Kriegsverbrecherprozess. Es gab bis heute ein Dutzend weitere Verfahren, und erst im Juli wurde ein Wachmann des Lagers Stutthof in Hamburg verurteilt, einige andere Fälle sind noch anhängig. Der Fall Demjanjuk aber, da ist Lawrence Douglas Recht zu geben, war epochemachend.
Das Buch
Lawrence Douglas: Späte Korrektur. Die Prozesse gegen John Demjanjuk, Wallstein Verlag, 297 S., 38 Euro
Demjanjuk und „Iwan der Schreckliche“ – eine beinahe tödliche Verwechslung