München – Frau Leiss (Name geändert) hat sich für heute viel vorgenommen. Ein Puzzle mit 500 Teilen. Weil ihr das Motiv so gut gefallen hat. Eine bunte Blumenwiese vor einem Bergpanorama. Früher war sie mit ihrem Mann so gerne wandern. Diese Landschaft erinnert sie daran. Behutsam breitet Frau Leiss die vielen bunten Teile vor sich aus und beginnt zu sortieren: in gerade und ungerade. Denn ein Puzzle fängt man am besten mit dem Rand an – das hat sie nicht vergessen. Auch wenn ihr im Alltag so vieles andere oft nicht mehr einfällt.
Frau Leiss ist 90 und leidet an Demenz. Noch kann sie sich selbst versorgen, sie lebt allein. Aber Gesellschaft ist für sie sehr wichtig. Deshalb kommt sie so gerne ins Haus Malta. Das ist eine Tagesstätte für Demenzkranke im Münchner Osten, die vor sieben Jahren von den Maltesern gegründet wurde. Dort werden an fünf Tagen die Woche Menschen betreut, die an Demenz erkrankt sind. Bei einigen ist die Krankheit noch im Anfangsstadium, bei anderen weiter fortgeschritten. Der jüngste Gast in dieser Einrichtung war eine 48-jährige Krankenschwester, Frau Leiss ist eine der Ältesten. „Jeder wird da abgeholt, wo er ist“, sagt Sabine Rube, die bei den Maltesern für die Demenzarbeit zuständig ist. Alle sollen nach ihren jeweiligen Fähigkeiten gefördert werden.
Das Konzept basiert auf der Philosophie Silviahemmet, die auf die schwedische Königin Silvia zurückgeht. Ziel ist eine gesellschaftliche Enttabuisierung der Krankheit, im Mittelpunkt stehen die Würde des Erkrankten und die Lebensqualität für ihn und seine Angehörigen. Auch das ist für die Malteser ein wichtiger Schwerpunkt ihrer Arbeit. „Es ist sehr wichtig, dass die Angehörigen Kraft tanken können und kleine Auszeiten bekommen“, erklärt Rube.
Umso härter traf viele betroffene Familien die Corona-Krise mit dem Lockdown im Frühjahr. Auch das Haus Malta musste dichtmachen – genau wie die Cafés für Demenzkranke, die die Malteser in München, Kirchheim, Pullach, Freising und Garmisch-Partenkirchen betreiben. „Zu wissen, dass unsere Gäste und die Angehörigen von heute auf morgen auf sich allein gestellt sind, war für uns sehr schwer auszuhalten“, sagt Rube. Die Malteser haben versucht, die Zeit des Lockdowns kreativ zu überbrücken. Sie haben alle angerufen, Einkaufshilfe angeboten, zu Ostern einen Blumengruß verschickt. Seit einigen Monaten ist das Haus Malta wieder geöffnet – allerdings ist genau das weggebrochen, was für Demenzkranke so wichtig ist: die gewohnten Abläufe.
Früher gab es ein Frühstück, ein gemeinsam zubereitetes Mittagessen und eine Kaffeerunde – nichts davon ist gerade möglich. Es können nur drei Gäste für drei Stunden pro Tag kommen. Sie werden die meiste Zeit in unterschiedlichen Räumen betreut – bei den Aktivitäten, auf die sie Lust haben. Und dabei müssen sie nun immer wieder die Hände desinfizieren und weitestgehend Masken tragen. Demenzkranke, denen die Maskenpflicht nicht vermittelbar ist, sind gesetzlich davon befreit, erklärt Susanne von Möller, die bei den Maltesern für die Ehrenamtsarbeit zuständig ist. „Aber im Alltag funktioniert das besser als erwartet.“
Die Maskenpflicht ist sogar eine Hilfe, um den Demenzkranken verständlich zu machen, dass gerade eine Ausnahmesituation gilt, sagt Marcel Krenz, der stellvertretende Leiter im Haus Malta. „Weil wir ja alle Masken tragen, erinnert es sie ständig daran, dass grade vieles anders ist als sonst.“ Das nehmen sie so hin, sagt er. Natürlich gebe es auch Gäste, die genervt davon sind und die Maske manchmal abnehmen. Und so lange der Sicherheitsabstand eingehalten wird, dürfen sie das auch, erklärt Krenz.
Frau Leiss trägt ihre Maske immer. Sie hat sie längst vergessen, so konzentriert sitzt sie an diesem Vormittag vor ihrem Puzzle. Fertig wird sie damit nicht. Das nette Gespräch mit der ehrenamtlichen Helferin hat sie ein wenig abgelenkt. Vor allem aber hat es gut getan. Als mittags das Taxi für Frau Leiss vor dem Haus wartet, ruft sie allen fröhlich zu: „Bis zum nächsten Mal.“ Ihr angefangenes Puzzle wird sie zu Hause bereits vergessen haben – wie nett sie sich an diesem Vormittag unterhalten hat aber nicht.