München/Passau – Am 22. Januar dieses Jahres wäre es bei Griesen beinahe zur Katastrophe gekommen. Eine verspätete Regionalbahn auf der Fahrt von Garmisch-Partenkirchen nach Reutte in Tirol hatte gegen 16.45 Uhr den Bahnhof Griesen gerade verlassen, als der Lokführer abrupt bremste: Auf demselben Gleis stand schon eine Regionalbahn. Nur 20 Meter voneinander entfernt kamen die Züge zum Stehen.
Wie in solchen Fällen üblich, leitete die Bundesstelle für Unfalluntersuchung (BEU) in Bonn, die zum Bundesverkehrsministerium gehört, eine Untersuchung ein. Sie kam im Juli zum Ergebnis, dass die Strecke ohne „technisch realisierten Folge- und Gegenfahrschutz“ betrieben wird. Fahrdienstleiter, die die Reihenfolge der Zugfahrten festlegen, verständigen sich über ein Zugmeldeverfahren per Telefon.
Nicht nur die Bahnstrecke bei Griesen ist auf diesem technischen Uralt-Stand, sondern, wie die BEU selbst in ihrem im Internet veröffentlichten Zwischenbericht schrieb, 52 weitere Bahnstrecken in Deutschland. Sie regte in dem Bericht an, alle Strecken einer Sicherheitsbewertung zu unterziehen.
Nachdem sich sowohl die Unfalluntersuchungsstelle als auch die DB Netz AG jedoch trotz mehrfacher Bitte weigerten, die Strecken im Einzelnen zu nennen, reichte unser Verlag beim Verwaltungsgericht Frankfurt/Main (wo die DB Netz ihre Zentrale hat) eine Auskunftsklage ein. Es dauerte gut einen Monat, dann gab die Bahn vergangenen Montag auf Anraten ihrer Anwälte klein bei. Um einen Prozess zu vermeiden, übernahm sie die Verfahrenskosten und schickte unserer Zeitung die komplette Liste.
Jetzt steht fest: Bahnstrecken überall in Deutschland sind veraltet. Lüneburg-Dahlenburg (Niedersachsen), Wabern-Fritzlar (Hessen), Rastatt-Wintersdorf (Baden-Württemberg) und viele weitere Nebenlinien werden aufgelistet. Einige Strecken liegen auch in Ostdeutschland und führen nach Tschechien. Genannt wird auch die Bahnstrecke von Johanngeorgenstadt im sächsischen Erzgebirge nach Potucky, die dann weiter bis nach Karlsbad führt. Dort war es im Juli zum Zusammenstoß zweier Regionalzüge gekommen, bei dem zwei Menschen starben. Aufgeführt werden ferner sechs bayerische Bahnstrecken – dazu gleich mehr.
Noch bevor unsere Zeitung von der DB die komplette Liste erhielt, hatte das Thema jedoch schon den Bundestag erreicht. Nach einem Tipp des Münchner Grünen-Abgeordneten Dieter Janecek, der unsere Berichterstattung im Juli verfolgt hatte, reichte sein baden-württembergischer Kollege Gerhard Zickenheiner noch im selben Monat eine Anfrage ein, welche Bahnstrecken in Bayern ohne technisch realisierten Folge- und Gegenfahrschutz betrieben werden. Janecek hätte die Anfrage gerne selber gestellt, er hatte sein Frage-Kontingent jedoch schon ausgeschöpft – daher der Umweg über seinen Kollegen Zickenheiner.
Am 24. Juli – noch bevor unsere Zeitung also die komplette Liste erhielt – beantwortete der Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, Enak Ferlemann (CDU), die Grünen-Anfrage: Neben der Strecke bei Griesen gebe es nur noch eine weitere derart veraltete Route: zwischen Landsberg und Schongau. Dort fahren aber nur ab und an Güterzüge der Schongauer Papierfabrik, keine Personenzüge.
Was Ferlemann nicht erwähnte: Die Unfalluntersuchungsstelle des Bundes hatte sehr wohl noch weitere Bahnstrecken in Bayern im Visier. Es handelt sich um vier aufeinanderfolgende Abschnitte der Rottalbahn. Das ist eine eingleisige, nicht elektrifizierte Bahnstrecke, die durch das touristisch interessante Bäderdreieck von Passau bis Neumarkt-St.Veit und dann weiter nach Mühldorf führt. Die Strecke dürfte eine der langsamsten in Bayern sein – wer sie von Anfang bis Ende durchfährt, ist gut zwei Stunden unterwegs. Dazu kommen nun die vom BEU offengelegten Kollisionsgefahren. Ohne technischen Kollisionsschutz sind speziell die rund 70 Kilometer zwischen Passau-Güterbahnhof bis Eggenfelden in Niederbayern.
Bahnprobleme in Niederbayern – wieder einmal. Eben erst hat Bayerns Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU) verfügt, dass ein Teil der Waldbahn (Gotteszell-Viechtach) wegen zu weniger Fahrgäste eingestellt wird. Der Unmut in der Region – auch bei CSU-Mandatsträgern – ist deswegen groß. Das nun bekannt gewordene Problem betrifft ihren Kollegen auf Bundesebene, Andreas Scheuer (CSU). In seinen Wahlkreis (Stadt und Landkreis Passau) führt die Uralt-Bahnstrecke.
Warum hat Scheuers Staatssekretär Ferlemann die Rottalbahn bei der Beantwortung der Bundestags-Anfrage verschwiegen? Auf Anfrage erklärt das Bundesverkehrsministerium, auf der Garmischer Strecke und Rottalbahn würden unterschiedliche Sicherungsprozesse angewendet. Ferlemann habe nur die beiden Strecken genannt, bei denen es allein auf Absprachen zwischen den Fahrdienstleitern ankomme. Bei der Rottalbahn gebe es sehr wohl „unterstützende Sicherungen“ – welche, sagt das Ministerium aber nicht. Klar ist jedenfalls, dass die Rottalbahn auf der Mängelliste der BEU aufgelistet ist.
Die Grünen hegen einen Verdacht. Es sei dem Ministerium wohl schlicht „peinlich“, dass so eine vorsintflutliche Strecke in den Wahlkreis Scheuers führe. Der Abgeordnete Dieter Janecek kritisiert daher die „Antwortqualität“ des Ministeriums. „Sollte sich bestätigen, dass das Bundesverkehrsministerium hier bewusst Informationen zurückgehalten hat, wäre das wirklich allerhand“, sagte er unserer Zeitung. Das werde ein Nachspiel haben.
Die Pressestelle der Deutschen Bahn veröffentlichte am Montag, nur 20 Minuten, nachdem sie unserer Zeitung die Liste via E-Mail geschickt hatte, eine offenbar schon länger vorbereitete Pressemitteilung. „Das sicherste Verkehrsmittel Schiene wird noch sicherer“, heißt es darin. „Die Deutsche Bahn stattet ältere mechanische und elektromechanische Stellwerke sowie eingleisige Nebenstrecken mit zusätzlicher Sicherungstechnik aus.“ Dafür würden in den nächsten drei Jahren 100 Millionen Euro investiert.
Für die Strecke bei Griesen wird aus einem anderen Förderprogramm der Bau eines elektronischen Stellwerks finanziert. Die Vorplanung ist abgeschlossen, 2023 soll es in Betrieb gehen.