Tutzing – Hussain Nasari, Raza Muradi und Attar Mir haben vieles gemeinsam. Die drei sind gebürtige Afghanen. Sie alle sind vor Verfolgung geflüchtet, kamen 2015 nach Bayern – und landeten kurze Zeit später in Tutzing. Die drei jungen Männer sprechen inzwischen perfekt Deutsch. Sie haben in den vergangenen fünf Jahren Arbeit gefunden. Und alle drei haben Ziele, auf die sie hinarbeiten wollen. Doch obwohl sich ihre Geschichten so ähnlich sind, ist das nicht gleich einfach für die drei.
Tutzing ist eine knapp 10 000-Einwohner-Gemeinde am Westufer des Starnberger Sees. Wie in vielen anderen Gemeinden kamen dort vor fünf Jahren viele hundert Flüchtlinge auf einmal an. Große Zelte wurden aufgebaut, Deutschkurse organisiert. Der ökumenische Helferkreis, den es dort seit einigen Jahren gab, wuchs schnell. Viele Tutzinger wollten den Geflüchteten helfen, in Bayern Fuß zu fassen.
Eine von ihnen ist Cornelia Janson. Sie stand im Herbst 2015 oft am Tutzinger Bahnhof und hat mit einem Willkommensplakat auf die Menschen gewartet. Mal kamen ein paar Dutzend an einem Tag, mal weit über hundert. Wochenlang. Janson war damals schon länger im ökumenischen Helferkreis engagiert. Der wurde von Tag zu Tag größer. Trotzdem hat sie sich manchmal gefragt, ob die Stimmung in der Gemeinde irgendwann kippen würde.
Sie ist nicht gekippt. Bis heute nicht. Vielleicht, weil sich Kindergärten, Schulen, Kirchen und Rathaus sofort positionierten und die Helfer unterstützten. „Vielleicht auch, weil wir von Anfang an das Gespräch gesucht haben, um Debatten positiv mitzubestimmen“, sagt Pfarrer Peter Brummer. Die Flüchtlinge waren in Tutzing immer präsent. „Es gab in dieser Zeit keinen Gottesdienst ohne eine Fürbitte für Menschen auf der Flucht“, erinnert sich der Pfarrer. Und oft saßen Asylbewerber mit im Gottesdienst – egal ob sie Christen oder Muslime waren.
Genau wie Cornelia Janson und die anderen Helfer kennt Brummer viele Lebensgeschichten. Auch die von Hussain Nasari, Raza Muradi und Attar Mir. An diesem Tag treffen sie sich seit Langem einmal wieder im Roncalli-Haus. Eigentlich hätte es dieser Tage ein großes Fest geben sollen. Ein Wiedersehen mit vielen der Menschen, die in den vergangenen fünf Jahren in Bayern angekommen sind. „Wir mussten es wegen Corona verschieben“, sagt Claudia Steinke, die Koordinatorin des Helferkreises. „Ohne Umarmungen könnte so ein Fest nicht stattfinden.“ Der Kontakt ist zu vielen geblieben – obwohl die meisten der Geflüchteten inzwischen auf eigenen Beinen stehen.
Nasari, Muradi und Mir sind drei Beispiele dafür. Nur Hussain Nasari lebt noch in Tutzing, in einer Wohnung. Er hat eine Ausbildung zum Bäckereifachverkäufer gemacht und hat im Service inzwischen sogar eine Stellvertreter-Stelle bekommen. Sein nächstes Ziel: die B2-Prüfung. Und dann der Meister. „Mein Chef will mich dabei unterstützen“, erzählt der 23-Jährige. Attar Mir lebt nun in einem WG-Zimmer in Gräfelfing, er studiert BWL und finanziert sich das Studium mit Nebenjobs. Er träumt davon, irgendwann eine eigene Firma gründen zu können. Die Asylanträge von beiden wurden anerkannt. Der von Raza Muradi nicht. Er ist nur geduldet, lebt noch in einer Container-Unterkunft in Krailling. Dort muss er sich das Zimmer mit zwei anderen teilen. Er hat eine Schreiner-Ausbildung abgeschlossen. Sein Arbeitsvertrag wird immer nur um einen Monat verlängert. Trotz 3+2-Regelung, die Flüchtlingen nach einer Ausbildung eigentlich die Berufsausübung für zwei weitere Jahre garantiert. Auch für seinen Arbeitgeber ist die Situation schwierig. „Ich konnte schon oft vor Angst vor der Zukunft die ganze Nacht nicht schlafen“, sagt er. Das Thema Arbeit macht auch den Helfern seit Jahren zu schaffen. Sie können viele Geschichten erzählen, die motiviert begannen und frustrierend endeten. „Es gab viele Flüchtlinge, die eine gute Stelle hatten in einem Beruf, in dem dringend Leute gesucht wurden“, erzählt Steinke. Im Pflegebereich, als Lokomotivführer, im Handwerk. Einige von ihnen durften plötzlich nicht mehr arbeiten, weil sie nur geduldet waren – ein paar von ihnen leben immer noch in Tutzing. Aber sie sind wieder von staatlichen Hilfen abhängig – und sitzen den ganzen Tag tatenlos in ihrer Unterkunft. „Das macht die Menschen mürbe“, sagt Pfarrer Brummer. Die Mitglieder des Tutzinger Helferkreises sind keine naiven Gutmenschen, sie wissen, dass nicht alle bleiben können, die in Deutschland Asyl beantragen. „Aber man könnte die Menschen doch mit einer Ausbildung zurück in ihre Heimatländer gehen lassen“, sagt Steinke. „Und mit Würde.“ Von den rund 300 Senegalesen, die damals in die Gemeinde kamen und kaum Bleibe-Chancen hatten, sind fast alle verschwunden. Untergetaucht, vielleicht in Deutschland, vielleicht in einem anderen EU-Land. Oft fragt sich Steinke, was aus ihnen geworden ist. Oder was gewesen wäre, wenn sie mit etwas Unterstützung zurückgekehrt wären nach Afrika.
Attar Mir ist dankbar für die Hilfe, die er hier bekommen hat. „Ich hatte Glück, dass ich in Tutzing gelandet bin“, sagt er. Allein der viele Papierkram. „Ohne die Helfer hätte ich das nie geschafft“, sagt er. Hussain Nasari hat einen Weg gefunden, etwas zurückzugeben. Seit er den Führerschein hat, fährt er in seiner Freizeit für die Frauen und Kinder in einer Unterkunft einkaufen. Aus denen, die Hilfe bekommen haben, werden neue Helfer, darüber freuen sich Janson, Steinke und die anderen Helfer. Pfarrer Brummer sagt: „Ich habe immer gewusst, dass wir das im Sinne der Solidarität schaffen.“ Und die Gemeinde habe davon profitiert, betont er. „Es sind Tutzinger zusammengekommen, die sich sonst vielleicht nie kennengelernt hätten“, sagt er. Die Gemeinde sei zusammengewachsen. „Diese Erfahrung, wie stark wir zusammen sind, ist sehr wertvoll.“