Wasserburg/München – Neulich war Franz Hartl einen kurzen Moment lang sprach- und ratlos. Er ist Vorstand der Stiftung Attl in Wasserburg (Kreis Rosenheim), die Menschen mit Behinderung betreut. Die meisten von ihnen sind geistig behindert oder autistisch – und können nur schwer verstehen, was eine Pandemie ist. „Ein Bewohner unserer Wohngruppen hat mich angesprochen“, erzählt Hartl. „Er forderte, unser Vorstand solle beschließen, Corona zu beenden.“ Eine Stiftung für Menschen mit Behinderung zu leiten ist gerade ähnlich schwierig, wie Leiter eines Pflegeheims zu sein. Es muss viel aufgefangen werden – und niemand weiß, wie lange noch.
Corona hat die Stiftung Attl in Wasserburg mit voller Wucht erwischt. Im Landkreis waren die Infektionszahlen im März so hoch wie in kaum einer anderen Region in Deutschland. Und innerhalb weniger Tage gelangte das Virus auch in die Wohngruppen. „Insgesamt wurden 50 Mitarbeiter und 28 Bewohner positiv getestet“, erzählt Vorstand Franz Hartl. 18 komplette Gruppen mussten in Quarantäne. Von heute auf morgen änderte sich der Alltag für die Menschen mit Behinderung völlig. Schulen, Förderstätten und Hort wurden geschlossen, Besuche waren nicht mehr erlaubt.
Die Mitarbeiter haben versucht, kreativ zu werden. Sie haben einen „Corona-Man“ erschaffen, der den Bewohnern die neuen Regeln verständlicher machen sollte. „Und natürlich haben wir versucht, Vorbild zu sein“, sagt Hartl. Doch die Schutzmasken waren anfangs schwer zu bekommen. „Eine Spende hat uns gerettet“, erzählt er. Doch nicht alle Bewohner können oder wollen die Masken tragen. Und das Besuchsverbot war noch schwerer zu vermitteln. „Die fehlenden Begegnungen haben sich auf die Stimmung ausgewirkt“, erzählt er. Einige wurden mutlos, andere aggressiv. Auch die Angehörigen litten. Ab Mai stabilisierte sich die Lage. Besuche im Freien waren wieder möglich. Seit damals gab es keine weiteren Infektionen. Doch der nahende Winter bereitet Franz Hartl Bauchschmerzen. „Wir haben nicht die räumlichen Kapazitäten, um die Besuche unter strengen Sicherheitsvorkehrungen drinnen stattfinden zu lassen“, sagt er. Für Tagesstätten und Wohngruppen für Menschen mit Behinderung gelten die gleichen rechtlichen Vorgaben wie für Seniorenheime. „Aber es gibt einen großen Unterschied“, betont Hartl. „Unsere Bewohner sind hochgradig mobil. Wir können sie nicht monatelang einsperren.“
Auch die Förderung ist während der Pandemie nur sehr eingeschränkt möglich. Die meisten Tages- und Förderstätten sind nach wie vor geschlossen. Und nicht alle Einrichtungen haben so viel Besuchsmöglichkeiten und alternative Angebote geschaffen wie die Stiftung Attl.
Karl-Heinz Gruber hat einen 31-jährigen Sohn, der vor fünf Jahren bei einem Unfall ein Schädelhirn-Trauma erlitt. Er braucht viel Hilfe im Alltag – auch um seine kognitiven Fähigkeiten zurückzugewinnen. Als die Pandemie ausbrach, war er gerade auf Reha. „Das war unser großes Glück“, sagt Gruber. Er ist überzeugt, dass er seinen Sohn sonst seit einem halben Jahr kaum noch gesehen hätte. Denn seine Wohngruppe in München lässt Besuche nach wie vor nur sehr eingeschränkt zu. „Das ist wie in einem Gefängnis“, sagt er. Deshalb haben er und seine Frau ihren Sohn nach Hause geholt. „Er wäre dort sonst durchgedreht“, sagt Gruber. Vor allem braucht er eine intensive Förderung, die in der Wohngruppe während der Pandemie nicht mehr möglich gewesen wäre. Karl-Heinz Gruber und seine Frau haben ihr Leben komplett umgestellt, um ihm die Therapien und das Leben bei ihnen zu ermöglichen. „Was hätten wir machen sollen?“, fragt er. „Wir können unseren Sohn doch nicht einsperren lassen.“
Die Grünen in Bayern fordern Lösungen für Familien wie die Grubers, die ihre Kinder aktuell nicht in Fördereinrichtungen schicken können oder wollen. Hier müsse der Staat neue Wege gehen, betont Kerstin Celina, die sozialpolitische Sprecherin der Landtags-Grünen. „Lernen in besonders kleinen Gruppen, in eigenen Räumen, mit räumlichem Abstand oder zeitversetzt.“ Außerdem bräuchten Förderschulen ein eigenes Hygienekonzept. „Dazu gehören medizinischer Mund-Nasen-Schutz für die Lehrer, aber auch gezielte und regelmäßige Reihentestung.“
Manche Schulen haben bereits umgestellt, unterrichten Wohngruppen in separaten Räumen, um eine Durchmischung der Schülerschaft und damit ein erhöhtes Infektionsrisiko zu vermeiden. Das verursache aber auch Probleme, berichtet eine Förderschullehrerin, die anonym bleiben will. Denn die Altersspanne der Wohngruppen ist recht breit, manchmal leben die Kinder im Grundschulalter mit 14- oder 15-Jährigen zusammen. Da ist es schwierig, Unterricht aus einem Guss anzubieten.
Auch das Maskentragen sei geistig behinderten Kindern schwer zu vermitteln. Manchen schwer behinderten Schülern, die zum Beispiel auf Sauerstoffzufuhr angewiesen sind, ist es aus medizinischen Gründen gar nicht möglich. Hinzu kommt ein rechtlicher Wirrwarr. Vormittags in der Schule gilt die Maskenpflicht, nachmittags in der Tagesstätte nicht. „Das ist den Kindern kaum zu vermitteln“, sagt die Förderschullehrerin.