München/Tegernsee – Eigentlich ist der 26. September 1920 fest in den Annalen der Bayerischen Gebirgsschützen-Kompanien verankert. An diesem Tag bekamen sie ihre so genannte Bundesfahne. Die Fahne ist einen guten Quadratmeter groß. Weiß-blaues Rautenmuster, darauf gestickt Maria, die Muttergottes, die Patrona Bavariae.
Eigentlich wäre der kommende Samstag also ein Festtag. 100 Jahre Landesschützen-Fahne. Doch Martin Haberfellner, Landeshauptmann der Bayerischen Gebirgsschützen mit insgesamt 12 000 Mitgliedern, hat alles abgesagt: wegen Corona.
So bleibt den Gebirgsschützen am Samstag nur ein Rückblick auf die Geschichte der Fahne, die zum sogenannten Landesschießen 1920 auf der Theresienwiese vom damaligen obersten Wittelsbacher, Kronprinz Rupprecht, gestiftet worden war. Den Wirbel um das Landesschießen der bayerischen Einwohnerwehren kann man sich heute kaum noch vorstellen. Die Einwohnerwehren entstanden nach dem Ersten Weltkrieg auf lokaler Ebene als örtliche Bürgerwehren, wurden aber überregional unter dem Forstrat Georg Escherich zu einem Landesverband zusammengefasst. Da die damaligen Siegermächte, aber auch die Reichsregierung in Berlin, die Einwohnerwehren als unerlaubte Wehrersatzformationen verstanden und ihre Entwaffnung forderten, wirkte das waffenstarrende Schützenfest von 1920 wie eine Provokation.
40 000 so genannte Wehrmänner marschierten auf der Theresienwiese auf, es war ein weiß-blaues und schwarz-weiß-rotes Fahnenmeer – schwarz-rot-gold, die Fahne der jungen Republik, fehlte jedoch. Das hatte natürlich Gründe. Man tut den damaligen Protagonisten nicht Unrecht, wenn man ihnen wenig Sympathie für Republik und Demokratie unterstellt. In München wirkte die Revolution bei vielen königstreuen Bürgern wie ein Trauma nach. Umso größer war die Sehnsucht nach einem König. „Bei den Gebirgsschützen gab es immer eine große Nähe zum königlichen Haus“, sagt Landeshauptmann Martin Haberfellner aus Kochel.
Drohte gar die Abspaltung Bayerns vom Reich? Eine weiß-blaue Restauration? Ein monarchistischer Putsch? Das dachten, fürchteten oder hofften damals viele. Letztlich blieb es ruhig. Geschossen wurde nur auf Schützenscheiben – mit echten Karabinern. Es muss, so hat es Haberfellner recherchiert, mehrere Tage gedauert haben. Und es winkten viele, teils hochkarätige Preise. „Halbe Wohnzimmereinrichtungen wurden da ausgeschossen“, sagt Haberfellner. Die von Rupprecht gestiftete Fahne war also nur ein Preis unter vielen, aber unstreitig ein besonders wertvoller. Gewonnen hat die Fahne dann der Isarwinkel-Mangfall-Gau, der fünf Schützen stellte. Und einer aus der Truppe, Karl Rauh aus Tegernsee, nahm sie mit nach Hause.
Dort am Tegernsee gab es noch eine Weihe, der schon schwer kranke Dichter Ludwig Thoma schrieb ein Festgedicht, danach wurde es still um die Fahne. Sie wurde in der Tegernseer Schlosskirche aufbewahrt. Und überdauerte Nazi-Zeit und Zweiten Weltkrieg. Erst nach der Wiedergründung des Bunds der Bayerischen Gebirgsschützen wurde die Fahne wieder hervorgeholt – die Tegernseer spendeten sie 1952 als Gründungsgeschenk. „Seither dient die Landesschützenfahne dem Bund als Bundesfahne“, erklärt Haberfellner.
In vierter Generation verwahrt die Familie Linsinger in Tegernsee die Fahne. Nur zu besonderen Anlässen wird die Fahne gezeigt. Etwa beim Begräbnis von Kronprinz Rupprecht 1955. Oder beim Papst-Besuch 2006 in München.
Der kommende Samstag wäre wieder so ein Anlass, die Fahne zu zeigen. Aber leider, die Corona-Krise…