München – Am 6. Oktober 1920 gegen die Mittagszeit fanden zwei Männer im Forstenrieder Park, nah bei der Straße München–Starnberg, die Leiche einer jungen Frau. Sie lehnte zusammengesackt an einer Fichte, das sieht man auf dem von der Polizei gefertigten Tatortfoto. Und sie war, wie die Strangulationsmerkmale am Hals zeigten, offensichtlich erwürgt worden. Über ihr hing an einem Ast ein Pappschild etwa im Din-A4-Format mit der etwas ungelenk hingeschmierten Aufschrift: „Du Schandweib hast verraten dein Vaterland. Du wurdest gerichtet von der schwarzen Hand“
Maria Sandmayer (auch Sandmayr geschrieben), so hieß die Tote, war das erste Fememordopfer in Bayern. 100 Jahre ist das jetzt her. Feme im Wortsinn steht für eine geheime gerichtsähnliche Versammlung, die über die Ermordung von politischen Gegnern oder Verrätern entscheidet. Aber eine knapp 20-jährige Frau als Verräterin? Die Historikerin Ulrike Hofmann hat vor bald 20 Jahren die Hintergründe des Verbrechens in einer Doktorarbeit dargestellt. Sie konnte auf Ermittlungsakten aus dem Staatsarchiv München zurückgreifen, denn die Polizei hat damals viele Hintergründe der Tat aufklären können – ohne dass es jedoch zu einer Verurteilung des Mörders kam. Seine Identität steht gleichwohl relativ fest: Es war der ehemalige, damals arbeitslose Reichswehr-Leutnant Hermann Berchtold, der den Mord 1931 sogar gestand – aufgrund eines Amnestiegesetzes jedoch straffrei blieb.
Maria Sandmayer war in Odelzhausen bei Dachau aufgewachsen. Marias Vater Xaver war Brauer bei der örtlichen Schlossbrauerei. Acht Kinder, ein mutmaßlich karges Leben, weshalb der Vater wahrscheinlich froh war, dass Maria im Herbst 1919 eine Stelle als Köchin und Dienstmagd auf Schloss Holzen im schwäbischen Wertingen gefunden hatte. Gut behandelt wurde sie offenbar nicht, denn sie äußerte verschiedentlich, es dem Schlossherrn irgendwie heimzahlen zu wollen. Eine Gelegenheit dazu bot sich, als die junge Frau mitbekam, dass im Schloss Waffen versteckt wurden. Wohl zufällig sah sie im heimischen Odelzhausen ein Plakat der Entwaffnungskommission, auf dem dazu aufgerufen wurde, Waffenverstecke zu melden. Diese Kommission war von den Siegermächten („Entente“) eingerichtet worden. Vor allem die Franzosen pochten auf eine strikte Entwaffnung der von den Fronten zurückströmenden deutschen Soldaten.
Maria Sandmayer fasste einen Entschluss, der für sie tödlich war: Sie wollte das Waffenversteck preisgeben. Am 24. September fuhr sie nach München – jedoch nicht zur Entwaffungskommission, sondern zum Plakathersteller, der Druckerei Waldbaur. Dort fragte sie den Betriebsleiter, wo sie Waffenverstecke anzeigen könne. Prompt geriet sie an den Falschen: Der Betriebsleiter war ehrenamtliches Mitglied der Einwohnerwehr, eines streng national ausgerichteten paramilitärischen Verbands. Für Mitglieder der Wehren, die damals überall in Bayern entstanden, war Revolution Verrat und der Friedensschluss von Versailles eine Schmach. Der Mann schickte Sandmayer zum Vorsitzenden seines Einwohnerwehrbezirks. Dieser notierte ihren Namen und schickte sie wieder fort.
Zwei Wochen später, am 5. Oktober, tauchte nachmittags in Odelzhausen ein junger Mann auf, der sich nach einer „Sandmann“ erkundigte und von den Dorfbewohnern die Auskunft erhielt, dass die wohl gemeinte Maria Sandmayer eine neue Stelle angetreten habe – bei einem Generalkonsul Kemmerich in München. In dessen Wohnung erschien der Mann dann am selben Abend und überredete die unbedarfte Frau – wohl mit dem Argument, er sei von der Entwaffnungskommission – zum Mitgehen. Nach zehn Uhr abends wurde Maria Sandmayer das letzte Mal gesehen. Am nächsten Tag fand man ihre Leiche.
Unter Verdacht stand zunächst ihr ehemaliger Freund (der tatsächlich lange in Untersuchungshaft blieb). Eine Woche nach dem Mord gab es aber eine neue Spur. Ein Chauffeur der Einwohnerwehr-Zentrale berichtete, dass Mitglieder am 5. Oktober ein Auto ausgeliehen hatten, das am nächsten Tag stark verschmutzt zurückkam. Die Polizei fand heraus, dass das Auto von einer Gruppe junger Männer genutzt worden war – angeblich, um bei Traunstein zwei Kisten mit Waffen zu verstecken. Einer aus der Gruppe, das ehemalige Freikorps-Mitglied Hans Schweighart, war seit dem 10. Oktober verschwunden – wobei sich zum Entsetzen der Kripo herausstellte, dass ihm von der politischen Abteilung der Münchner Polizei – höchst ungewöhnlich – binnen nur eines Tages ein Reisepass für Österreich ausgestellt worden war. Zunächst war Schweighart, wie sich später herausstellte, bei Helfershelfern der Einwohnerwehr untergetaucht, ehe er im Dezember tatsächlich nach Österreich flüchtete. Trotz einer Verhaftung 1921 in Tirol geschah ihm nichts. Historikerin Hofmann nimmt an, dass seine Beteiligung am Mord der Fluchtgrund war. Auch der mutmaßliche Mörder Hermann Berchtold, der später noch an weiteren Morden beteiligt war (siehe Kasten) und mit Schweighart nach Österreich geflüchtet war, blieb unbehelligt. Ende 1921 tauchte er lange Zeit unter.
Im Dunkeln blieb damals auch die Verbindung der Täter zu „höheren“ Kreisen. Heute steht fest, dass eine Melange rechtsextremer Kräfte in Polizei, Justiz, Reichswehr zusammen mit „national“ gesinnten Privatiers und Unternehmern die Morde befohlen hatte und die Mörder deckte. Manche von ihnen machten selbst bei der Befragung durch die Kripo keinen Hehl daraus, dass sie das Vorgehen für richtig hielten. So erklärte der ehemalige Freikorps-Anführer Franz Ritter von Epp, der sich später der NSDAP anschloss, noch 1924: „Ich halte es für einen Akt der Notwehr und für ein sittliches Recht, dass von vaterländischen Kreisen gegen Waffenverräter vorgegangen wurde, schon aus dem Grunde, um abschreckend zu wirken.“
In Odelzhausen wird heute, 100 Jahre nach dem Mord, darüber nachgedacht, eine Straße nach Maria Sandmayer zu benennen. Er wolle aber erst mehr über die Hintergründe des Mordes erfahren, sagt Bürgermeister Markus Trinkl. In Odelzhausen wurde die junge Frau damals bestattet – und nur wenige Wochen nach ihr auch ihre Mutter Sofie. Sie soll aus Gram über den frühen Tod ihres Kindes gestorben sein, erzählt man sich unter den Nachfahren der Sandmayers. Noch heute wird auf dem Grabstein der Familie an beide erinnert.