„Eine Luchssichtung kann man kaum planen“

von Redaktion

INTERVIEW Nationalpark-Vizechef Jörg Müller über die tierische Vielfalt im Bayerischen Wald

Vor 50 Jahren wurde der Nationalpark Bayerischer Wald gegründet. Heute leben dort rund 10 000 verschiedene Tierarten. Jörg Müller, Professor für Tierökologie an der Uni Würzburg und Stellvertretender Leiter des Nationalparks, erklärt, wie er vergangenes Jahr einen ausgestorben geglaubten Käfer wiederentdeckte und welche tierischen Schätze sich im Bayerischen Wald verbergen.

Herr Müller, haben Sie ein Lieblingstier im Park?

Mein persönliches Highlight war die Rückkehr des Großen Flachkäfers Peltis grossa. Der galt seit 1906 im Nationalpark als ausgestorben. Nun ist er wieder eingewandert.

Und Sie haben ihn sogar selbst wiederentdeckt.

Es gibt im Bayerischen Wald in der Regel nur eine Nacht im Jahr, in der es über 20 Grad hat. Da sind Käfer besonders aktiv. In so einer lauen Nacht im Juli vergangenen Jahres bin ich losgezogen, weil Kollegen im benachbarten tschechischen Sumava-Nationalpark den Käfer gesichtet und mich per SMS informiert hatten. Und tatsächlich: Nach nur fünf Minuten Suche in einem Waldgebiet saß er vor mir. Das war ein überwältigender Moment, der Mond über mir und der Käfer auf dem rotrandigen Fichtenporling an einer mächtigen toten Fichte. Wieder ein Urwaldrelikt zurückgekehrt – nach fast 120 Jahren.

Bekannt ist der Nationalpark Bayerischer Wald vor allem für seine Luchse.

Wir sind das älteste deutsche Luchsvorkommen. Auch diese Art ist aus Tschechien wieder zugewandert, nachdem dort Luchse in den 1980er-Jahren angesiedelt wurden. Heute sind wir, wenn man die gesamte Population im bayerisch-böhmischen Grenzgebirge betrachtet, wieder bei mehr als 130 Tieren.

Andere schwärmen von ihren Begegnungen mit dem Auerhahn.

Der spektakuläre Vogel ist omnipräsent in der Region, auf Gemälden im Wirtshaus oder auf Hausfassaden gemalt. Unser Problem ist, dass Auerhuhn und Wanderer denselben Habitatanspruch haben. Beide sitzen gerne am Gipfel und genießen den Ausblick. Das führt dazu, dass an beliebten Wanderzielen wie dem Lusen oder dem Großen Rachel die Auerhühner ihren Lebensraum kaum noch nutzen können. Weil wir die Menschen dort nicht aussperren wollen, haben wir nun andere Bereiche gesperrt, um den Auerhühnern stressfreie Rückzugsräume zu geben.

Ein weiterer Zuwanderer im Park ist der Wolf.

Beim Wolf ist es so: Er kann mit dem Menschen gut umgehen. Die Frage ist, ob der Mensch das auch mit dem Wolf kann. Im Bayerischen Wald ist das Ganze eigentlich relativ entspannt. Der Wolf bevorzugt hier Gebiete mit sehr hoher Rotwilddichte, denn so eine Hirschkuh macht gut satt. Momentan gehen wir von zwei Rudeln im Grenzgebiet des Bayerischen Waldes aus.

Vor drei Jahren sind aus Ihrem Freiwildgehege sechs Wölfe entlaufen. Zwei wurden erschossen, einer vom Zug überfahren, einer wieder eingefangen. Was ist aus den verbliebenen beiden Tieren geworden?

Sie sind weiterhin verschwunden. Ein Tier scheint nach Österreich gewandert zu sein, es deutet vieles darauf hin, dass es dort erschossen wurde. Für uns ist ein solcher Ausbruch sehr unangenehm, denn im Gehege aufgewachsene Tiere zerstören die natürliche Dynamik der freien Wolfspopulation und schaden der Akzeptanz in der Bevölkerung.

Ist mittlerweile klar, von wem das Gehege geöffnet wurde?

Nein, die Kripo konnte leider keinen Täter ermitteln.

Luchs, Auerhahn und Wolf sind sehr präsent, aber Sie lenken den Blick gerne auch auf die kleinen, unauffälligen Arten.

Der Wolf braucht den Nationalpark nicht als Lebensraum. Für uns ist interessanter, welche in Europa hoch bedrohten Arten durch die veränderte Waldlandschaft wieder bessere Lebensbedingungen finden können. Und da gibt es eine ganze Reihe. Nicht nur bei den Tieren, sondern auch bei den Pflanzen, zum Beispiel die Zitronengelbe Tramete – ein extrem seltener Pilz, der durch das viele Totholz im Nationalpark wieder flächig vorkommt.

Auf welche Tierart würden Sie gerne in der nächsten lauen Mondnacht stoßen?

Es gibt einen Schnellkäfer namens Lacon lepidopterus. Der wurde im Bayerischen Wald 1905 das letzte Mal in Deutschland nachgewiesen. Inzwischen hat man ihn im Grenzgebiet der Sächsischen Schweiz zu Tschechien wiederentdeckt. Aber ich habe noch eine kleine Hoffnung, dass er auch bei uns irgendwo überlebt hat. Wir müssen ihn nur noch finden.

Suchen Besucher im Park nach bestimmten Tieren?

Die meisten kommen zum Wandern und wollen die Landschaft erleben. Aber es gibt auch Naturbegeisterte, die wegen einzelner Arten kommen – zum Beispiel dem Habichtskauz, dem Auerhuhn oder dem Weißrückenspecht. Da hat man auch gute Chancen, sie zu sehen, wenn man zur richtigen Zeit den richtigen Wanderweg wählt. Am schwierigsten ist aber der Luchs. Der taucht zwar immer wieder auf – aber nur zufällig. Eine Luchssichtung kann man also kaum planen.

Interview: Dominik Göttler

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