Burggen – Als Barbara Bißle an ihrem 25. Geburtstag vor die Haustüre tritt, ist sie sprachlos. In ihrem Garten und der Einfahrt liegen über einhundert Schachteln in sämtlichen Größen. Sogar in den Bäumen hängen Eierschachteln. Grund dafür ist das sogenannte Schachtelfest. Ein Brauch, den Bißle und ihre Freundeskreise aus Tannenberg und Burggen (Kreis Weilheim-Schongau) pflegen.
Bißles Freunde halten das Schachtelfest für jede unverheiratete Frau zu ihrem 25. Geburtstag ab. Egal, ob diese – wie Bißle – einen Freund hat. Beim Schachtelfest werden zahlreiche Kartons vor dem Haus des Geburtstagskindes verteilt. „Ich habe selbst schon vier oder fünf Mal mitgemacht“, sagt Bißle. Deshalb habe sie auch mit einer Retourkutsche gerechnet. „Aber nicht in dem Ausmaß“, sagt die etwas schockierte 25-Jährige.
Für die zwei Lkw-Ladungen voller Pappe waren zwei von Bißles Freundeskreisen, die sich zusammengetan hatten, verantwortlich. Mitten in der Nacht karrten sie die Schachteln zum Haus der 25-Jährigen nach Burggen – die Überraschung am Morgen war ihnen sicher.
Doch der Brauch ist nicht überall geläufig. „Eine Vielzahl von Bräuchen in Bayern ist regional begrenzt und daher nicht überall bekannt“, erklärt Michael Ritter vom Bayerischen Landesverband für Heimatpflege. „Den Brauch des Schachtelfestes kenne ich nicht, muss ich gestehen.“ Offenbar ist der Brauch vor allem im Allgäu gebräuchlich und soll etwas uncharmant darauf hinweisen, dass die Frauen an ihrem 25. Geburtstag zur „alten Schachtel“ geworden sind. In Norddeutschland wird eine abgewandelte Form praktiziert: Dort wird bei unverheirateten 25-Jährigen ein Schachtelkranz ums Haus aufgehängt.
Nicht nur zu Geburtstagen, sondern bei vielen wichtigen Lebensereignissen werden Bräuche wiederbelebt. Zur Geburt eines Mädchens gibt es etwa die „Bixnmacherei“, ein aufgestelltes Schild, an dem leere Konservendosen hängen. Was heute eine nette Willkommensaktion für den Nachwuchs ist, die die meisten Eltern mit Humor nehmen, hatte früher einen ernsten Hintergrund. Da Mädchen früher für die Bauernfamilien eine finanzielle Belastung bedeuteten und der Vater eine Hochzeit bezahlen musste, sollten die Dosen Nachbarn und Verwandte zum Spenden animieren.
Aber auch für die Geburt eines Buben gab es ein Schild: „Zum Lumpenmacher“. Dabei wurden die Konservendosen weggelassen, denn ein Mann konnte selbst seinen Unterhalt verdienen und brauchte keine Aussteuer. Die Rollenbilder von Mann und Frau haben sich zwar deutlich verändert, der Brauch ist aber geblieben.
Noch bevor die Mädchen und Buben begrüßt werden, stellen Freunde oft den sogenannten Kindsbaum zur Hochzeit auf. Bei diesem Brauch wird vor dem Haus des Brautpaares ein hoher Stamm aufgestellt, der einem Maibaum ähnelt, bestückt mit Babysachen wie Stramplern, Schnullern oder Rasseln. Damit wird das Brautpaar aufgefordert, dass es innerhalb eines Jahres ein Kind bekommen soll. Sonst winkt den Kindsbaum-Aufstellern eine Brotzeit.
Die meisten Hochzeitspaare freuen sich über die Überraschung, doch der Kindsbaum-Brauch könne auch verletzend sein, sagt Ritter. „Es ist oft liebenswürdig gemeint, aber unbewusst kann es diskriminierend sein“, erklärt der Fachmann. Wenn das Paar keine Kinder bekommen kann, sei es besonders schwierig. „Bräuche sind nicht immer gut, auch wenn sie alt sind“, sagt Ritter.
Wer weiß, vielleicht stehen bei Barbara Bißle und Freund Toni auch bald Kindsbaum und Bixnmacherei an. Doch erst einmal heißt es, das Schachtel-Chaos vor dem Haus zu beseitigen.