Wenn die Maske fällt

von Redaktion

VON JOSEF AMETSBICHLER

Grafing – Eine Frau, die einen Kaffeefilter auf der Nase balanciert, grinst unter dem braunen Papiertrichter in ihrem Gesicht hervor, als sie in den Saal huscht. Von den Umstehenden gibt es anerkennende Blicke. „Kreative Lösung!“, sagt einer. Der Raum in einem Gasthaus in Grafing (Kreis Ebersberg) füllt sich an diesem Freitagabend. Die an der Tür ausgelegte Kontaktdaten-Liste unter dem Schild, das auf die Maskenpflicht hinweist, lassen die meisten links liegen. Auch die Pflicht zum Mund-Nasen-Schutz abseits des eigenen Sitzplatzes wird, vorsichtig ausgedrückt, liberal gehandhabt.

Kurz bevor die Veranstaltung beginnt, herrscht kurz Aufregung am Eingang: Eine Handvoll junger Leute ist aus der Dämmerung aufgetaucht, sie tragen Masken mit der Aufschrift „Vermummungsgebot!“, die sie als Sympathisanten der Satirepartei „Die Partei“ erkenntlich machen. Die ist für ihren – oft markigen – Protest gegen Maskengegner und Verschwörungstheoretiker bekannt. „Das ist die Antifa“, sagt die Veranstalterin. Der Einlass wird dem Grüppchen mit Verweis auf eine maximale Teilnehmerzahl von 75 verweigert. Dann schließt sich die Tür und die erste „Offene Gesprächsrunde für Alle“ in Grafing kann beginnen.

„Pandemie ohne Ende?“ und „Corona – lasst uns reden!“: So waren anonyme Handzettel beschriftet und verteilt worden – offenbar hatten die Initiatoren auch über Internet-Chatgruppen eingeladen. Im Vorfeld rätselten die Grafinger bereits in den sozialen Medien, wer hinter der Aktion stecken könnte. „Wir sind Menschen mit Fragen, die sich zusammengefunden haben. Was momentan geschieht, betrifft uns alle“, sagt die Veranstalterin, die sich unserer Zeitung als „Freiberuflerin und Mutter“ vorstellt, bevor der offizielle Teil des Abends beginnt.

Der besteht aus einer Diskussion zwischen Publikum und Expertenpodium. Mit dabei beispielsweise ein Homöopath, eine Heilpraktikerin, ein Steuerberater, aus verschiedenen Orten im Landkreis. Gut 70 Menschen sitzen nun im gut gefüllten Saal, darunter einige bekannte Gesichter aus der Grafinger Lokalpolitik. Maske trägt niemand mehr – mit Ausnahme zweier Pressevertreter, die ihre Stühle in den Frischluft-Zustrom der offenen Hintertür gestellt haben. Auf den Verweis der Gastgeberin aufs Hygienekonzept schallt ein vielstimmiges Kichern aus dem Saal zurück.

Die anschließenden Redebeiträge drehen sich beinahe ausschließlich um die Maskenpflicht und die Angst vor dem Coronavirus. Ob vom Podium oder aus dem Publikum – Schlagworte wie „Angstmache“, „Terrorisierung unserer Kinder“, Fake News“, „Regierungslinie“ „Massenhypnose“ und „vermeintliche Pandemie“ werden zuverlässig mit Klatschen bedacht. „Dumm“, „geistig minderbemittelt“ oder „bösartig“ – das sind die anderen. Eine Besucherin fühlt sich an die Ceausescu-Diktatur in Rumänien erinnert und räumt mit einem Appell gegen den „Schuldkult“ der Deutschen und den Worten „Keine Diktatur hält ewig!“ den Applaus-Preis des Publikums ab.

Zwischenzeitlich merkt die Veranstalterin an, dass auch im Landkreis immer wieder Kinder wegen der Maskenpflicht in Ohnmacht fielen; das wisse sie von zuverlässigen Bekannten. Und tote Kinder habe es wegen der Schutzmaßnahme auch schon gegeben. Das ist eine längst widerlegte Falschnachricht. Schade sei übrigens, dass „die Gegenseite“ nicht gekommen sei. Grafings Bürgermeister sei eingeladen gewesen. Er kam nicht.

Den Sinn der „weltweiten Panikmache“ erklärt der Steuerberater auf dem Podium mit einer globalen Agenda für die Neue Weltordnung, einer Verschwörung der Mächtigen – der Weltgesundheitsorganisation, des jüdischen Milliardärs George Soros und des superreichen Impfstoff-Förderers Bill Gates. Im Publikum: Schweigen – ob zustimmend oder betreten, lässt sich kaum deuten. Applaus wie Widerspruch jedenfalls bleiben auf die Warnung vor der „großen Transformation“ aus. „Wir haben die Wahrheit“, sagt ein Zuschauer kurz darauf.

Eine Viertelstunde vor dem Ende geht die Saaltür auf und der Wirt platzt in Begleitung zweier Polizistinnen herein. Das vereinbarte Hygienekonzept sei nicht eingehalten, kritisieren er und die Beamtinnen. Als die Veranstalterin für die letzten 15 Minuten Besserung gelobt, zieht die Polizei nach Aufnahme ihrer Personalien wieder ab.

Kurzzeitig gerät die Presse als Tippgeber unter Verdacht. „Jemand aus der Runde hat uns angezeigt!“, sagt die Veranstalterin. Auf Facebook bekennen sich noch am Abend die abgewiesenen Aktivisten der Satirepartei zu dem Anruf in der Inspektion. „Partei ruft Polizei“, heißt es da.

Ein positiver Abschluss sei wichtig, sagt ganz am Ende eine Podiumsexpertin – und bittet alle Gäste in den etwas gelichteten Reihen um eine halbe Minute des Schweigens und darum, „an etwas Schönes zu denken“. Als sich die Besucher schließlich in die Grafinger Nacht zerstreuen, hinterlassen sie verzweifelte Wirtsleute, die noch versuchen, möglichst viele Kontaktdaten zusammenzukratzen. Für was für eine Veranstaltung er da seinen Saal vermietet hatte, das betont der Wirt noch am Abend gegenüber unserer Zeitung am Telefon, sei ihm zuvor nicht gesagt worden. Die Corona-Kritiker hätten seine Hinweise auf Hygienekonzept und Mindestabstände schlicht unterlaufen.

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