Die Truhe zur Vergangenheit

von Redaktion

Günther Hensel lernte seinen Altgroßvater über Dokumente kennen

VON JOSEF HORNSTEINER

Garmisch-Partenkirchen – Als Bub hat Günther Hensel einen Satz immer wieder zu hören bekommen: „Lass deine Finger von der Kiste.“ Doch der junge Garmischer war stets fasziniert von der Holztruhe, die im inneren mit Blech ausgeschlagen ist, um ihren Inhalt vor Brand zu schützen. Als Erwachsener konnte Hensel, der mit Hausnamen „Conditer-Nantl“ gerufen wird, die uralte Kiste endlich öffnen. Das, was er dort fand, übertraf all seine Erwartungen. Er hatte einen historischen Schatz gefunden.

Die Truhe, die sich seit Jahrhunderten im Besitz der alteingesessenen Garmischer Familie befindet, offenbarte Urkunden und Dokumente: Manche über 250 Jahre alt. Seit Jahren studiert Hensel die zahlreichen Schriftstücke. Hat sie sortiert, übersetzen lassen, in Reinform als Familienchronik niedergeschrieben. 160 Seiten dick ist sie mittlerweile, erzählt er stolz. Vieles konnte er seither erklären. Zum Beispiel, wie sein Hausname „Nantl“ entstanden ist. „Der Begriff geht auf meinen Vorfahren Ferdinand Lechner zurück.“ Der ist am 13. Januar 1786 geboren worden und lernte den Beruf des Brunnenmachers. Aus Ferdinand ist schließlich über Jahre hinweg die Abkürzung „Nantl“ entstanden.

Auf ein Dokument ist Hensel besonders stolz. Ein großes Abschiedsschreiben, bestens erhalten. Die geschnörkelte Schrift in schwarzer Farbe ist gut lesbar. Es dokumentiert den Abschied des Garmischers Johann Michael Lechner – Hensels Altgroßvater – aus der Königlich Bayerischen Armee am 30. August 1834. Ein rares Unikat. Diese Armee unterstand von 1806 bis 1919 dem Königreich Bayern. Zwar konnten die bayerischen Streitkräfte hinsichtlich ihrer Größe nie mit den Armeen der europäischen Großmächte konkurrieren. Dennoch verschaffte sie den Wittelsbachern genügend Handlungsspielraum, um die Mittelmacht Bayern im Rahmen einer effektiven Bündnispolitik vom territorial zerrissenen Kleinstaat zum zweitgrößten Bundesstaat des Deutschen Kaiserreichs nach Preußen zu entwickeln.

Für Hensel hat die Urkunde einen unschätzbaren persönlichen Wert. Sie ist eine Momentaufnahme seines Ururururgroßvaters. Sie hat ihm ermöglicht, seinen Stammbaum und die Familienchronik noch detaillierter zu durchleuchten, seine Wurzeln noch tiefer zu ergründen. Zwei Monate und 27 Tage leistete Lechner Mitte des 19. Jahrhunderts Dienst in der Garnison. „Während seiner kurzen Dienstzeit hat er eine ausgezeichnete Aufführung gepflogen“, zitiert Hensel aus dem Abschiedsschreiben. Nach Lechners förmlichem Ausscheiden aus der Linien-Armee ist er verfassungsmäßig verpflichtet worden, sich als Legionist für das Reserve-Bataillon und der Landwehr zur Verfügung zu stellen.

Das Abschiedsschreiben offenbart noch mehr Details: Hensels Altgroßvater war „sechs Schuh“ groß. „Ich habe es umgerechnet“, sagt Hensel. „Er war etwa 1,83 Meter groß.“ Für damalige Verhältnisse stattlich. Auch Hensel ist groß. „Viele sagen, ich schaue meinem Altgroßvater ähnlich.“ Das beweisen auch Bilder, die es von Lechner vulgo „Nantl Hannes“ gibt. Als besonderes Kennzeichen ist vermerkt, dass Lechners „kleiner Finger an der rechten Hand krumm“ ist. „Wie bei mir“, sagt Hensel.

Geboren ist Lechner am 26. September 1812 in Garmisch, wie das königliche Landgericht Werdenfels im Isarkreise bescheinigt. Lechner war Katholik, zu der Zeit der Entlassung ledig und gelernter Fasslmacher. Das Zimmermannshandwerk wurde ihm von 1837 bis 1839 bei Bonaventura Bart „Mock“ in Partenkirchen beigebracht, entnimmt Hensel einem anderen Dokument. Lechner ist am 13. September 1879 in der Garmischer Griesstraße 12 gestorben. Er hinterließ seine Ehefrau Maria Anna Lechner, geborene Maurer „Bäck“ und die zwei Kinder Ignaz und Maria Anna Lechner. Letztere war Großmutter von Franz Sand, dem langjährigen Pfarrer von Garmisch-Partenkirchen. All das hat Hensel dank der Truhe rekonstruiert. Der Schatz, den er geborgen hat, war seine eigene Familiengeschichte.

Artikel 6 von 11