Freiheit als Mittel gegen Armut

von Redaktion

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Amartya Sen

Frankfurt – Armut und Reichtum einer Gesellschaft hängen nicht alleine vom materiellen Niveau und dem Wirtschaftswachstum eines Landes ab. Denn dieser Blick ist zu eingeschränkt, vieles geht dabei verloren. Das ist eine der zentralen Thesen des indischen Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Sen, der an diesem Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Der 86-jährige Ökonom und Philosoph blickt weit über die Grenzen dieser Disziplinen hinaus. Als Ökonom nahm er sich in glasklaren Analysen die Ursachen von Hunger, Armut und Ungleichheit vor: den Mangel an Freiheit, an Demokratie, freien Medien und Lebenschancen.

Als Philosoph tritt Amartya Sen der Ideologie vom Kampf der Kulturen entgegen. Sen warnt davor, Menschen auf eine einzige Kategorie zu reduzieren, „sich gegenseitig unverrückbar in enge Schubladen zu stecken“, sei es nach Religion, Kultur oder Herkunft. „Ein Identitätsgefühl kann eine Quelle nicht nur von Stolz und Freude, sondern auch von Kraft und Selbstvertrauen sein“, räumt er ein. „Und dennoch kann Identität auch töten.“ Sen spricht von einer „Identitätsfalle“, die sich Brandstifter zunutze machten.

Ob Menschen sich entwickeln können, lässt sich nicht nur daran messen, welchen materiellen Wohlstand sie selbst oder die Gesellschaft zur Verfügung haben. Stattdessen, so Sen, geht es vor allem darum, wie viel konkrete Freiheit sie genießen, ihr Leben selbst zu gestalten. Dabei kann Freiheit zum einen die Abwesenheit von Not bedeuten. Eine gute Entwicklung nimmt ein Land in diesem Sinne, wenn beispielsweise ein Sozialsystem existiert, das grundsätzliche Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter auffängt. Andererseits sollte die Gesellschaft alle Bürgerinnen und Bürger nach Kräften darin unterstützen, ihre jeweiligen Lebenschancen zu ergreifen und zu verbessern. Das bedeutet: keine Entwicklung ohne ein gutes Bildungssystem.

Sens Arbeiten trugen wesentlich zur Konzeption des Human Development Index (HDI) bei, der vom UN-Entwicklungsprogramm 1990 als Maßstab für Lebensqualität vorgestellt und längst allgemein akzeptiert wurde. Zentral dabei ist, dass nicht nur wirtschaftliches Wachstum, sondern auch Bildung und Lebenserwartung der Bevölkerung gemessen werden. Seine Arbeiten zu Wohlfahrtsökonomie, Sozialwahltheorie und Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung trugen ihm 1998 den Wirtschaftsnobelpreis ein. Der nach ihm benannte Sen-Index misst die Ungleichheit in einer Nation.

An Universitäten wie Delhi, Kalkutta, Cambridge, Oxford, Stanford, Berkeley und Harvard hörte Sen die teils erbitterten Debatten zwischen Vertretern unterschiedlicher ökonomischer Denkschulen. So stritten Keynesianer, Neoklassiker und Marxisten über Marktliberalismus und Regulierung. Sen entzieht sich gleichwohl einer Schublade. Ohne Markt ist für ihn keine Schaffung von Wohlstand denkbar. Doch zugleich betont er: „Märkte allein funktionieren nicht und können nicht funktionieren.“

In ähnlicher Weise befürwortet er die Globalisierung, die aber sozial gestaltet werden müsse. Um Ungleichheit zu bekämpfen, sei es nicht hilfreich, auf internationale Wirtschaftsbeziehungen und den Austausch von Wissen und Technologie zu verzichten, hält er Globalisierungsgegnern vor. H. KOCH, E. TREFFINGER

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