UNSERE HEIMATSPITZE

Tanzen gegen die Seuche

von Redaktion

VON BEZIRKSHEIMATPFLEGER NORBERT GÖTTLER

Rituale, Kunst und Musik gehören wohl seit jeher zur Traumabewältigung der Menschheit. Krankheit und Verlusterfahrung haben Künstler aller Zeiten zu Meis-terwerken angespornt. Selbst der Tod eines Menschen wird begleitet von Kunst, das musikalische Requiem etwa gehört zu den ergreifendsten Formen der menschlichen Schaffenskraft.

Was für das Private gilt, gilt auch für das Gesellschaftliche. Auf den desaströsen Dreißigjährigen Krieg folgte mit dem Barock eine Explosion des Kreativen, Farbigen und Fantastischen. Selbst in den Konzentrationslagern Hitlers und den Gulags Stalins wagten es einzelne Häftlinge, unter Lebensgefahr Gedichte zu schreiben und Musik zu komponieren. Kultur ist mehr als Zeitvertreib und Accessoire in wirtschaftlich guten Zeiten. Das betonte schon der frühere deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker. „Kultur ist kein Luxus, den wir nach Belieben auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere innere Überlebensfähigkeit sichert.“

Um innere Überlebensfähigkeit ging es auch nach den Zeiten großer Seuchen. Zeiten, an die wir momentan schmerzlich erinnert werden. In Oberammergau gelobte man nach dem schweren Pestjahr 1633 die regelmäßige Aufführung von Passionsspielen, anderswo beauftragte man Baumeister, Bildhauer und Kirchenmaler mit der Errichtung von Pestsäulen oder Pestkapellen.

In die Tradition dieser Traumabewältigung durch Kunst und Ritual gehört auch der Mythos des Münchner Schäfflertanzes. Mythos deshalb, weil es sehr fraglich ist, ob die Entstehungslegende, wonach der Tanz im pestverseuchten München des Jahres 1517 erstmals stattgefunden haben soll, Wahrheitsgehalt hat. Mutige Schäfflergesellen, so die Legende, hätten sich erstmals wieder auf die Straße getraut und mit ihrem Tanz die verschüchterte Bevölkerung aufzurichten versucht. Fachleute zweifeln an dieser Version, da die Matrikel 1517 gar keine Pestfälle in München verzeichnen und ein regelmäßiger Aufführungsturnus erst ab 1760 belegbar ist.

Über 250 Jahre Tradition ist ja auch schon was, und mythologische Überhöhungen von Ereignissen, deren Ursprung man nicht kennt, sind nicht selten. Auf jeden Fall verbreitete sich der Tanz als Zunfttanz der Schäffler (anderswo auch Küfer genannt) in Windeseile in ganz Süddeutschland. Wandernde Gesellen trugen das Ihre dazu bei, denn das Ganze war lange Zeit nur den unverheirateten Gesellen vorbehalten.

Erst durch den Rückgang ihres Handwerks griffen die Schäffler seit den 1960er-Jahren verstärkt auf verheiratete oder gar berufsfremde Tänzer zurück. Die Tänzer, erkennbar an ihren roten Kostümen und an ihren grünen Girlandenbändern, werden mancherorts begleitet von Spaßmachern wie Fassschlägern und Harlekinen. Das deutet wiederum darauf hin, dass die Bevölkerung zu allen Zeiten der Aufmunterung durch Kunst, Kultur und Ritual bedurfte. Hoffentlich erinnern wir uns auch dann noch daran, wenn Corona wieder vorüber ist!

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