Bischofswiesen/Freilassing – Noch ist Andrea Schnurrer ziemlich gefasst. „Das mit dem Besuchsverbot hört sich schlimmer an, als es ist“, sagt die Altenheim-Leiterin aus Bischofswiesen. Die Gemeinde liegt im Landkreis Berchtesgadener Land. Der einzigen Kommune bundesweit, in der wegen Corona ein faktischer Lockdown herrscht. Auch das Caritas-Haus St. Felicitas ist seit Dienstag geschlossen für Besucher, kein Angehöriger darf es mehr betreten, nur in strengen Ausnahmefällen. Ihren 44 Bewohnern falle das noch nicht auf“, sagt Schnurrer. Zwei Wochen seien „kein Problem“ – solange das „kein Dauerzustand“ werde.
Noch sieht es nicht nach einem baldigen Ende der verschärften Kontaktbeschränkungen aus. Die Sieben-Tage-Inzidenz im Berchtesgadener Land lag zuletzt bei knapp 280 und sank am Wochenende wieder leicht. Die hohe Zahl hängt auch damit zusammen, dass sich bei zwei großen Arbeitgebern mehrere Mitarbeiter infiziert haben: der Saline in Bad Reichenhall und der Molkerei Berchtesgadener Land in Piding. Schnurrer verfolgt die Entwicklungen genau.
Die Situation in den Alten- und Pflegeheimen im Landkreis erinnert ans Frühjahr, als bayernweit erstmals Besuchsverbote galten. Damals durften Bewohner teilweise acht Wochen lang ihre Zimmer nicht verlassen, bekamen keine Angehörigen, Mitbewohner, Seelsorger zu Gesicht. Angst und Gefahr waren groß, dass pflegebedürftige alte Menschen kaum erträgliche seelische Belastungen erleiden oder gar in ihrer letzten Lebensphase einsam sterben müssen. Seitdem gab es zahlreiche Forderungen, bei einem neuerlichen Lockdown das Thema anders handzuhaben.
So wünschte sich der frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, der Erlanger Theologe Peter Dabrock, „mehr Kreativität“ im Umgang mit Schutzmaßnahmen in den Heimen. Bei der ethischen Abwägung gegen den Infektionsschutz müsse die Selbstbestimmung der Senioren wieder mehr ins Zentrum rücken. Der Evangelische Arbeitskreis der CSU forderte, dass in der zweiten Corona-Welle Besuche zugelassen werden. Der Pflegeschutzbund Biva warnt bereits vor „unverhältnismäßigen“ Besuchsverboten bundesweit.
Die Diakonie Bayern tut sich mit Forderungen an die Politik schwer. „Natürlich sind Begegnung und Berührung ein menschliches Grundbedürfnis“, sagt Diakonie-Sprecher Daniel Wagner. Doch es gehe um eine Interessensabwägung: „Global zu sagen, lasst Besuche zu, ist schwierig, zumal wir eine Verantwortung für unsere Mitarbeiter haben.“ Bei den mehr als 200 Senioreneinrichtungen der Diakonie Bayern lasse sich nur vor Ort entscheiden, „was umsetzbar und vertretbar ist“.
Die neue Allgemeinverfügung im Berchtesgadener Land, die vorerst bis 2. November gilt, verbietet Besuche in Heimen. Als Ausnahme regelt sie, dass „die Begleitung Sterbender oder von Personen in akut lebensbedrohlichen Zuständen durch den engsten Familienkreis jederzeit zulässig“ sei. Seit Mai waren dort Besuche, wie in ganz Bayern, eingeschränkt möglich. Angehörige mussten registriert, Besuchszahlen erfasst und das Einhalten der Maskenpflicht überwacht werden. Das AWO-Seniorenzentrum in Freilassing entwickelte ein Besuchskonzept mit Ampelsystem, das sich an den Infektionszahlen orientiert und auch Kontakt auf den Bewohnerzimmern vorsieht, wie AWO-Sprecherin Linda Quadflieg-Kraft sagt.
Mit diesem Kontakt ist es nun erstmal vorbei. Doch generell wirkt es, als habe man aus dem ersten Lockdown gelernt. Sowohl im Haus St. Felicitas als auch im AWO-Zentrum dürfen die Bewohner ihre Zimmer weiter verlassen, sich frei auf ihrer Etage bewegen oder mit Abstand im ganzen Haus. „Eine Gefahr der sozialen Isolation sehe ich nicht, weil die Leute sich treffen können“, sagt Schnurrer. Zudem wohnt im Haus ein pensionierter Pfarrer, der einige seelsorgliche Aufgaben übernimmt und Andachten veranstaltet. Aktivitäten in kleineren Gruppen bleiben möglich. Es fänden viele Gespräche statt und eine intensivere Betreuung: „Außerdem telefonieren unsere Bewohner im Moment wieder besonders häufig mit ihren Angehörigen.“ Auch im Haus St. Felicitas wird eifrig geskypt.
Denn trotz der etwas besseren Voraussetzungen „können wir natürlich die Angehörigen nicht ersetzen“, sagt Schnurrer. Durch ihre eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten begreifen die Bewohner häufig nicht, warum Maßnahmen notwendig sind, oder vergessen, weswegen ihre Angehörigen wegbleiben. „Mancher fühlt sich von seinen Angehörigen einfach nur verlassen und vergessen“, sagt sie und stellt klar: „Wir sehen die Angehörigen als Partner in der Betreuung der Senioren, nicht als Infektionsrisiko.“ Quadflieg-Kraft sagt schlicht: „Wir hoffen auf ein Ende der Maßnahmen in zwei Wochen.“
Spürbar etwas ändern könnte sich nach Wagners Ansicht durch die Ausstattung mit Schnelltests. Forderungen, dass Pflegeheime dabei bevorzugt werden sollen, „hören wir mit Freude“, sagt er. Bei allen Schwächen dieser Tests seien sie doch „hilfreich, um eine Situation bewerten zu können“. CHRISTINE ULRICH