Garmisch-Partenkirchen – Anna Hertle hat in diesem Sommer emotionale Momente auf ihrer Tannenhütte bei Garmisch-Partenkirchen erlebt. Einige Gäste, die oben eintrafen, hatten Tränen in den Augen, berichtet die Wirtin. Freudentränen. Zum Beispiel die Mutter, die das erste Mal eine Bergtour mit ihrem gehbehinderten Kind unternehmen konnte – ohne Bergbahn. Oder die ältere Dame, die sich so sehr gewünscht hatte, wieder einmal auf einer Berghütte einkehren zu können – wie sie es früher so oft gemacht hatte. Sechs Wochen lang kam an jedem schönen Tag ein Gast im Rollstuhl auf der Hütte an, berichtet Hertle. „Für alle war es ein ganz besonderer Moment, als sie den Weg nach oben allein geschafft hatten“, erzählt sie. Und meistens ergaben sich schnell Gespräche mit anderen Gästen. Anna Hertle wundert das kein bisschen. „Jeder kennt doch schließlich jemanden, der nicht laufen kann oder schlecht auf den Beinen ist, aber so gerne wieder einmal in die Berge gehen würde.“
Stefan Jenuwein hatte gehofft, dass die Idee gut angenommen wird. „Aber die große Nachfrage hat mich wirklich überrascht. Ich hatte nicht gedacht, dass wir mit dem Projekt so sehr einen Nerv treffen.“ Sechs Wochen lang lief die Testphase für den Gelände-Rollstuhl Extreme X8 der Firma Sunrise Medical. Er war täglich ausgebucht. Die Internetseite hatte in dieser Zeit rund 4600 Aufrufe, 616 Nutzer klickten bis zum Buchungsformular. Ausprobieren durfte ihn für eine Tagesmiete von 15 Euro jeder – auch Menschen ohne Gehbehinderung. Doch gemietet haben ihn letztendlich nur Leute, die den Aufstieg ohne den Rollstuhl nicht geschafft hätten, berichtet Jenuwein, der Vorsitzender des Peitinger Vereins „Bewegung und Begegnung“ ist. Die meisten waren männlich (76 Prozent), aber alle Altersgruppen waren vertreten – auch Über-70-Jährige. Und einige kamen sogar aus Südtirol, um diese besondere Tour auf die Tannenhütte zu unternehmen.
Der Extreme X8 ist ein hochmoderner Gelände-Rollstuhl. Er fährt mit einer Geschwindigkeit von bis zu 10 km/h und schafft auch bei Geröll eine Steigung von 30 Prozent. Der Akku reicht für 15 Kilometer. Jenuwein hatte lange nach einem passenden Rollstuhl gesucht, der es Menschen mit Gehbehinderung ermöglicht, Bergtouren zu unternehmen. Die Tannenhütte ist die einzige, die barrierefrei ist. Sie ist nach einem Brand vor einigen Jahren neu aufgebaut worden. Vor allem an barrierefreien Toiletten scheitere es bei den anderen Hütten, erklärt Jenuwein. Aber auch dafür hätte er schon eine Idee. Denn über einen glücklichen Zufall ist der Verein an eine mobile, barrierefreie Toilette gekommen, die er künftig auch zu anderen Zielen transportieren könnte, um Menschen mit Gehbehinderung eine Bergtour zu ermöglichen.
Allerdings müssen dafür erst mal Sponsoren gefunden werden, erklärt er. Denn der Rollstuhl kostet 30 000 Euro – und müsste erst mal dauerhaft finanziert werden. „Wir haben ihn für 15 Euro vermietet, weil wir nicht eine neue, finanzielle Barriere schaffen wollten“, sagt Jenuwein. „Kostendeckend ist das aber nicht. Es sind allein zwei Stunden Arbeit, den Rollstuhl individuell anzupassen.“ Jenuwein hat nun ein Gespräch mit der Garmischer Bürgermeisterin vereinbart. Mit Unterstützung der Gemeinde könnte das Projekt vielleicht fortgeführt werden. „Vielleicht sogar irgendwann mit zwei Rollstühlen“ – das würde er sich zumindest wünschen. „Jeder der 42 Testfahrer hat einen Fragebogen bekommen“, erzählt er. Die sind inzwischen ausgewertet. Eine Frage wurde in jedem Bogen mit Ja beantwortet: „Alle haben sich gewünscht, dass der Rollstuhl eine ständige Einrichtung wird“, sagt Jenuwein.