Mit dem Leiterwagen bis nach Bayern

von Redaktion

VON MARION NEUMANN

Ein wenig Wäsche. Zwei Kopfkissen und eine Wolldecke. Der kleine „Luftschutzkoffer“, in den die Mutter schon in der Kriegszeit wichtige Dokumente gepackt hatte. Mehr war es nicht, was Familie Reigl am 24. Juni 1945 auf den hölzernen Handleiterwagen packen konnte, als sie ihr Zuhause in Waltsch im Egerland – auf Tschechisch Valec – verlassen musste.

Dass es ein Abschied für immer war, wusste die 17-jährige Maria Reigl, die heute Lochschmidt heißt, nicht. Ebenso wenig war ihr bewusst, welche Bedeutung der Leiterwagen einmal für ihre Familie haben würde. Als bewaffnete Soldaten an jenem Tag im Rahmen der „Wilden Vertreibung“ das Haus der Sudetendeutschen betraten, wurde ihnen nur gesagt, dass sie die Wohnung in 20 Minuten zu verlassen hatten – und Proviant für drei Tage einpacken sollten. „Was nimmt man da mit?“, fragte sie sich.

Mit dem kleinen Leiterwagen, der von einem Wagnermeister eigentlich als Spielgerät gefertigt worden war, begann für Maria, ihre Mutter Leopoldine, ihren Großonkel Franz und den neunjährigen Bruder Otto eine Reise ins Ungewisse. Otto Wenzel Reigl, der Familienvater, befand sich zu diesem Zeitpunkt in englischer Kriegsgefangenschaft. Die „Irrfahrt“, wie Maria Lochschmidt es später nennen wird, führte durch Böhmen, Sachsen und Thüringen bis nach Bayern.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden 1945 und 1946 drei Millionen Deutsche aus dem heutigen tschechischen Grenzgebiet – Böhmen, Mähren und Teile Schlesiens – vertrieben. Die Benes-Dekrete schufen die Voraussetzung für die Vertreibung der deutschen Minderheit. Damit sollten die Sudetendeutschen für ihre angebliche Unterstützung der Nationalsozialisten bestraft werden. Die Dekrete gehören zu den umstrittensten europäischen Rechtsakten. Die vom tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes erlassenen Verfügungen mit Gesetzes-Charakter dienten Behörden und vielen Bürgern als Freibrief für einen Rachefeldzug.

Maria Lochschmidt ist eine dieser Vertriebenen. Heute ist sie 92 Jahre alt und lebt in München. Noch immer hat sie die Erinnerung an die Vertreibung klar vor Augen – und auch die Angst hat sie nicht vergessen. Gemeinsam mit anderen Deutschen seien sie auf dem Marktplatz in Waltsch von bewaffneten Uniformierten „weggetrieben worden wie eine Viehherde“. Auf den Marsch nach Norden in Richtung Erzgebirge begaben sich etwa 100 Personen aus Waltsch und 30 weitere aus der Umgebung. An einen Abend, als ein schweres Gewitter aufzog, kann sich Maria Lochschmidt noch genau erinnern. „Die Männer wurden aufgerufen, Gräben zu schaufeln – und wir dachten, jetzt werden wir erschossen“, sagt sie. Diese schlimme Befürchtung bewahrheitete sich nicht. „Wir wurden schließlich in einer Schule untergebracht. Wofür die Gräben ausgehoben wurden, haben wir nie erfahren – eventuell wegen des Regens.“

Auf dem Wohnzimmertisch von Maria Lochschmidt liegen dicke Fotoalben, die die Familiengeschichte dokumentieren. Teilweise stammen vergilbte Bilder sogar aus dem 19. Jahrhundert und zeigen ihre Großeltern. Auch schriftlich hat sie ihre Erinnerungen festgehalten. Etwa im Jahr 2003 in der sudetendeutschen Zeitung „Heimatbrief“. In einem „Erlebnisbericht“ mit der Überschrift „Mit Handwägelchen und Taschengeld“ schildert sie darin auf sieben Seiten die Vertreibung aus Waltsch. Wie der Titel bereits verrät, spielt auch darin der Leiterwagen der Familie eine Rolle. Das Gefährt sei „unverwüstlich“, heißt es in ihren Aufzeichnungen.

Bruder Otto war es, der das nur etwa 90 Zentimeter lange Wägelchen als Kind durch vier Länder zog. Wenn Maria Lochschmidt davon spricht, dass der Wagen für ihren Bruder „Spiel- und Arbeitsgerät“ zugleich war, lässt sich erahnen, wie schwer die Zeit für ein Kind gewesen sein muss. „Seinen zehnten Geburtstag haben wir auf der Landstraße gefeiert“, erinnert sie sich.

Auch Otto Reigl baute sich Jahre später in München ein neues Leben auf. Als Dr. jur. Otto Reigl war er vor der Rente als Vizepräsident des Sparkassenverbandes Bayern tätig. Wie Maria Lochschmidt wurde ihm Jahre nach der Vertreibung in Waltsch die Ehrenbürgerwürde verliehen. Reigl war es, der den Leiterwagen der Familie als Ausstellungsstück an das Sudetendeutsche Museum spendete. Am Freitag war die Eröffnung des Museums für das Publikum – ein Höhepunkt der Ausstellung sind die vielen geschichtsträchtigen Exponate.

Wie viele Stationen die Reigls mit dem Wagen zurückgelegt haben, ist dem Gefährt nicht anzusehen. Am 26. Oktober 1945 erreichten sie die sächsisch-bayerische Grenze – ohne Großonkel Franz. Der ältere Mann, dem es schon zu Beginn der Reise schlecht ging, musste in Sachsen in ein Krankenhaus eingeliefert werden und starb. „Wir haben uns nicht wiedergesehen“, sagt Maria Lochschmidt.

Von Hof aus ging es schließlich nach Wunsiedel im Fichtelgebirge. Im Dezember kehrte Otto Wenzel Reigl aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Dass die Mutter im Koffer Zeugnisse des Vaters mitgenommen hatte, stellte sich als Glück heraus: Der ehemalige Gutsverwalter fand eine Anstellung in Feldkirchen bei München. „Dort hatte unsere Irrfahrt ein Ende“, sagt Maria Lochschmidt. Seit 1950 lebt Maria Lochschmidt nun in Pasing. In München lernte sie auch ihren mittlerweile verstorbenen Ehemann kennen, der aus Marienbad stammte. Das Paar bekam einen gemeinsamen Sohn, Maria Lochschmidt hat inzwischen zwei Enkel. Ganz losgelassen hat sie die Vergangenheit aber nie. „Es kommt immer wieder einmal“, sagt sie. Mit ihrem Ehemann reiste sie in den 1970er-Jahren zum ersten Mal wieder nach Waltsch. Viele weitere Besuche folgten – für sie bleibt die Gemeinde in Tschechien „Heimat“.

Das Sudetendeutsche Museum, in dem der Leiterwagen der Reigls nun einen neuen Platz gefunden hat, hat Maria Lochschmidt vorab besuchen können. Es sei sehr schön geworden, sagt sie. Auf die Frage, ob der Anblick des ausgestellten Handwagens bei ihr noch Emotionen auslöse, schüttelt sie nur den Kopf. „Nein“, sagt sie knapp, „der hat seinen Dienst getan.“

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