Verschenkte Lebensfreude

von Redaktion

SOLIDARITÄT IM ADVENT Kelsey Markl kümmert sich um eine sehbehinderte Seniorin

VON CLAUDIA SCHURI

München – Immer Dienstag- und Donnerstagnachmittag singt Chico besonders schön. Denn dann kommt Besuch – und der wird freundlich begrüßt. Chico ist der Wellensittich von Anneliese Fischer aus München. Die 79-Jährige ist sehbehindert und erhält an den beiden Nachmittagen Unterstützung von Kelsey Markl. „Wenn Kelsey hochkommt, dann geht die Sonne auf und Chico fängt an zu zwitschern“, erzählt sie.

Die beiden kennen sich seit Juli, den Kontakt hat der Verein „Dein Nachbar“ vermittelt. Er hilft im Großraum München hilfsbedürftigen Senioren und deren Angehörigen. „Bis 2030 wird jeder siebte Bürger auf Unterstützung im Alltag angewiesen sein“, erklärt der Vorsitzende Thomas Oeben. „Gerade weil es so einen starken Pflegekräftemangel gibt, ist es wichtig, ein logistisches System aufzubauen.“ Der Verein hat eine Fachstelle, bei der pflegende Angehörige von Fachkräften Tipps zur häuslichen Betreuung, zu Hilfsangeboten und Leistungsansprüchen bekommen – auch jetzt, in Zeiten von Corona. Er bietet sogar Pflegeschulungen an. „Es ist wichtig, einen Profi zur Seite zu haben“, sagt Oeben.

Außerdem vermittelt „Dein Nachbar“ Ehrenamtliche an Senioren, die Hilfe benötigen. Schon lange habe sie überlegt, sich zu engagieren, sagt Kelsey Markl. „Aber ich war zuerst etwas überfordert, was es alles gibt.“ Sie arbeitet Teilzeit von zu Hause aus und ist deshalb etwas flexibel. „Man sollte seine Zeit sinnvoll nutzen“, findet sie. „Ich wollte ältere Menschen unterstützen.“ Vor dem ersten Einsatz bekam sie eine Schulung: „Es gibt einen Kurs für die Helfer und sie bekommen passgenaue Einsatzmöglichkeiten“, sagt Oeben. Helfer können sich eine Handy-App herunterladen, um Vorschläge zu bekommen, wo Unterstützung gesucht wird. Wenn der Ehrenamtliche die Aufgabe annimmt, gibt es ein erstes Kennenlern-Treffen.

„Bei uns hat die Chemie gleich gestimmt“, erinnert sich Anneliese Fischer. Auch ihre Tochter wird durch die Hilfe von Kelsey Markl entlastet. „Alleine kann ich das Haus nicht mehr verlassen“, sagt die Seniorin. Markl fährt mit ihr zum Arzt, zum Friseur, zur Post, in die Apotheke oder zum Einkaufen. „Sie weiß im Supermarkt ganz genau, wo alles ist“, erzählt die 31-Jährige. Anneliese Fischer kann es zwar nicht mehr erkennen – aber sie hat ein gutes Gedächtnis und kann umso besser beschreiben, wo genau im Regal ihre Lieblingsprodukte stehen.

Meistens gönnen sich die beiden nach ihren Terminen noch ein Stück Kuchen oder ein Gebäck. Dann sitzen sie im Wohnzimmer von Anneliese Fischer auf den gemütlichen Ledersofas, zwischendurch zwitschert Chico im Hintergrund, und ratschen oder schauen Bilder an. So wie das Fotobuch über Fischers 70. Geburtstag im Oktober 2011. Damals verschlechterte sich ihre Augenerkrankung. „Ich konnte plötzlich die Glückwunschkarten nicht mehr lesen“, sagt sie. Heute kann sie nur noch sehr schwer erkennen, was auf den Fotos zu sehen ist. Vor ihrem geistigen Auge werden sie aber wieder scharf – auch dank Markls Beschreibungen. Der Herr mit dem dunklen Pulli und den wenigen Haaren ist Fischers verstorbener Ehemann, das junge Mädchen mit dem Pferdeschwanz ihre Enkelin. „Inzwischen kenne ich schon viele der Leute auf den Fotos“, sagt Kelsey Markl beim Blättern durch das Buch.

Auch sie mag die Gespräche mit Anneliese Fischer. „Sie erzählt so viele tolle Geschichten, da lerne ich, wie es in München früher war.“ Markl stammt aus Kentucky in den USA und lebt seit acht Jahren in Deutschland.Manches, das die 79-Jährige ihr zeigt, ist neu für sie. Zum Beispiel das kleine blaue Büchlein, das die Seniorin gerade gesucht hat. Es ist über 70 Jahre alt und steckt voller Erinnerungen: ein Poesiealbum. „Ich wusste zuerst gar nicht, was es ist“, erzählt Markl. Umso interessanter findet sie es, in die Kindheit von Anneliese Fischer einzutauchen. Ihre Mutter, ihr Vater, ihre Oma, viele Schulkameraden – alle haben sich dort verewigt. Schwarze Scherenschnitt-Bilder und Blumenzeichnungen sind darin zu sehen und viele liebe Sprüche zu lesen – beziehungsweise für Anneliese Fischer zu hören, wenn Kelsey Markl ihr alles beschreibt.

Auch über das Leben in den USA unterhalten sich beide oft. „Manchmal bringt Kelsey amerikanisches Essen mit“, sagt Anneliese Fischer, „und wir haben zusammen mitgefiebert, wie die Wahl ausgeht.“ Jetzt freuen sie sich auf die Adventszeit. „Vielleicht können wir gemeinsam etwas machen, zum Beispiel ein Gesteck“, schlägt Markl vor. Für sie steht fest: „Ich will langfristig helfen.“ Das freut nicht nur Anneliese Fischer – sondern auch Chico.

Infos zum Verein

„Dein Nachbar“ und eine Übersicht zum Hilfsangebot gibt es im Internet auf der Seite www.deinnachbar.de.

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