Rückenmuskel in Bein transplantiert

von Redaktion

Pfaffenhofen – An einem Juli-Abend errichtet Dieter Kern auf seinem Grundstück in Pfaffenhofen in der Hallertau einen neuen Gartenzaun. Als seine Frau mit dem Auto nach Hause kommt, erschwert ihr ein in der Straße stehender Lastwagen den Weg in die Einfahrt. Der 70-Jährige war früher selbst Lkw-Fahrer. Er will den Fahrer bitten, Platz zu machen. Doch der fährt plötzlich los. „Der Fahrer konnte mich nicht sehen, ich mache ihm keinen Vorwurf, es ist einfach blöd gelaufen“, sagt Kern heute. Als er dem Lastwagen ausweichen will, rutscht er auf dem Rollsplit aus. Kern schafft es gerade noch, seinen Rumpf zur Seite zu drehen. Doch mit dem Vorderreifen überrollt das tonnenschwere Fahrzeug sein Bein.

Kern steht unter Schock, seine Frau Ramona ist fassungslos. Sie hat gerade eine schwere Krebs-OP überstanden. „Ich war am Ende meiner Kräfte“, sagt sie. „Aber es musste ja weitergehen.“

Dieter Kern kam ins Krankenhaus. Erst in Pfaffenhofen, später wurde er in die München Klinik Bogenhausen verlegt. Dort leitet Oberarzt Dr. Alexander de Heinrich eines der größten Zentren für Rekonstruktive Mikrochirurgie in Europa. „Es grenzt an ein Wunder, dass bei Herrn Kern alle Knochen intakt waren. Aber Haut, Muskeln, Nerven und Blutgefäße waren komplett zerstört“, berichtet er. In einer vorbereitenden OP entfernte der erfahrene Spezialist mit seinem Team das Weichteilgewebe bis auf den Knochen und säuberte die Wunde, Kerns Bein kam in einen sogenannten Vakuumversiegelungsverband. Das ist eine eine Art Spezialschiene, die unter anderem einer Infektion vorbeugen soll. Um Kerns Bein zu retten, schmiedete sein Arzt einen kühnen Plan: Er entfernte den Großen Rückenmuskel und ummantelte damit den Unterschenkel. Das transplantierte Gewebestück war 31 Zentimeter lang und 24 Zentimeter breit. Der Mensch kann auch ohne diesen Rückenmuskel leben, allerdings keine Klimmzüge mehr machen. „Der Latissimus wird von einer Arterie und zwei Venen mit Blut versorgt. Diese Gefäße haben wir unter dem Mikroskop mit einer Unterschenkelarterie und zwei Venen verbunden – und zwar so, dass auch der Fuß weiterhin durchblutet wird. Die feinen Nähte sind nur etwa halb so dick wie ein Menschenhaar“, erklärt Dr. de Heinrich.

Außerdem entnahm er mit einer Art Hobel dünne Hautschichten an den Oberschenkeln und verpflanzte diese an den Unterschenkel. Der heikle Eingriff dauerte über fünf Stunden. Zwei Monate lag Kern nur im Bett, dann kam er in die Reha. „Nach einem Vierteljahr konnte ich wieder laufen, zunächst mit Gehstützen. Heute klappt es ohne jede Hilfe. Ich habe kaum noch Schmerzen, bin überglücklich und den Ärzten sehr dankbar, dass ich mein Bein behalten habe“, sagt der 70-Jährige. Auch sein Operateur ist erleichtert. „Wenn man sieht, wie ein Patient nach so einem schweren Unfall wieder selbstständig aus der Klinik marschiert, dann ist das einfach eine pure Freude und eine große Motivation.“

VON ANDREAS BEEZ

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