Zuerst dachte ich, dass ich mich allmählich zu einer nöligen alten Schachtel entwickle. So eine, wie sie mir früher – allein dieses Wort „früher“! – auf die Nerven gegangen sind. Ich schwieg. Schließlich muss ich ja weder im Freundes- noch im Bekanntenkreis breittreten, wie spießig ich geworden bin. Niemand erfuhr also, wie es in mir aussah. Bis, ja bis zu dieser Busfahrt neulich. Da kam alles zusammen. Eine lange Sitzung in der Staatskanzlei. Das Thema kann sich jeder vorstellen. Es gibt ja kein anderes. Schnell danach noch eingekauft und mit drängelnden Kunden über ihren Abstand von 30 Zentimetern diskutiert. Gerade noch den Bus erwischt. Sie sitzt hinter mir. Eine schöne Frau in den Vierzigern. Statt die Fahrt durch das abendliche München zu genießen, palavert sie mit einer anderen Frau am Telefon. Diese andere ist so laut, dass man sie auch hört. In früheren Zeiten – schon wieder! – sagte man: „Du musst nicht so schreien, das macht die Post für dich!“ Heute ist das schwieriger, weil man nicht weiß, wer welches Netz benutzt. Die Dame blökt und pustet mir von hinten ins Genick. Es ist anstrengend – dieses Dauergerede in Verkehrsmitteln, in Restaurants, wenn sie mal offen haben. Immer noch zucke ich zusammen, wenn jemand urplötzlich auf der Straße losbrüllt. Also telefoniert. Ich versuche es mit Meditation. Nichts. Das Spiel auf meinem Handy, mit dem ich seit Jahren eine Gartenlandschaft kreiere, schafft auch keine Abhilfe. Ich überlege, ob ich vielleicht ebenfalls jemanden anrufen und lautstark meine Sicht der Welt verbreiten könnte. Das scheint mir aber zu Recht ziemlich albern zu sein. Man kann ja schrullig werden, aber nicht blöd.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Frau einen türkischstämmigen Hintergrund hat. So viel verstehe ich von der Sprache. Ich will keinesfalls rassistisch erscheinen – da kämpfe ich doch Tag für Tag mit Vehemenz dagegen an. Was soll ich von mir denken? Oder, das beschäftigt mich eine Weile, wäre es fremdenfeindlich, gerade einen Menschen nicht mit Kritik zu konfrontieren, weil er oder sie womöglich eine andere Herkunft hat als ich? Die Gedanken dazu helfen mir über ein paar weitere Haltestellen hinweg. Die Fahrt entwickelt sich zu einer therapeutisch-ethischen One-Woman-Show. Bis mir der Kragen platzt und ich zu meiner Fahrgenossin tapfer sage: „Das ist echt ziemlich laut jetzt.“ Sie schaut mich verdutzt an, kommuniziert hurtig mit ihrer Gesprächspartnerin und setzt sich weg. Bei meiner Haltestelle steige ich aus und sage „Iyi aksamlar“ – guten Abend. Sehr viel mehr Türkisch als ein paar Grußformeln kann ich nicht. Möglicherweise grübelt die Dame jetzt trotzdem, ob ich ihre ganze Plauderei verstanden habe. Und ich denke darüber nach, ob dieser scheinbar höfliche Abschied nicht genau deswegen meinen Tadel verdient. Das Leben ist kompliziert. Ich melde mich wieder. * Die frühere evangelische Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler ist Vorsitzende des Ethik-Rates. Ihre Kolumne erscheint alle zwei Wochen.