München – Eine Stimme am anderen Ende der Leitung – mehr braucht es manchmal gar nicht. „Hallo“, heißt es da am Telefon, und schon bricht es aus dem Anrufer heraus: „So möchte ich nicht mehr weiterleben.“ Es sind oft verzweifelte Sätze, mit denen die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter der katholischen Telefonseelsorge in München konfrontiert werden.
Einer von ihnen ist Tobias Lehner. Er bleibt ruhig, auch wenn solche Sätze fallen. „Das heißt nicht immer, dass der Anrufer wirklich sterben will, sondern dass er unter den aktuellen Lebensumständen nicht mehr weiterleben will, aber im Leben trotzdem noch etwas sucht“, erklärt Lehner. Er spricht das Thema Suizid oft auch direkt an. „Das erfordert schon Mut. Manche haben Angst, den Anrufer damit zu bestätigen – doch das Gegenteil ist der Fall.“ Über das Thema reden erleichtert. In allen Fällen.
„Bei uns rufen Menschen an, die oft von tiefem Leid erzählen“, berichtet er. „Menschen, die sehr schnell und sehr direkt ihre Not äußern.“ Sie treffen bei der Telefonseelsorge auf ein offenes Ohr; auf jemanden, der vollkommen unvoreingenommen ist. „Genau das zeichnet das Angebot aus“, erklärt Lehner. „Alles, was ablenkt, fällt weg.“ Und das funktioniert nur mit absoluter Anonymität, auf beiden Seiten. Die Nummer des Anrufers ist geheim und kann nicht zurückverfolgt werden. So entsteht Vertrauen – zwischen vollkommen Fremden.
„Es gibt einfach Themen, die möchte oder kann man nicht mit einem Freund besprechen“, erklärt Heide Volk. „Trotzdem geht es einem dreckig. Dann kann man bei uns anrufen und es abladen.“ Die 55-jährige Münchnerin ist hauptberuflich bei einer Bank tätig, doch sie engagiert sich seit drei Jahren regelmäßig ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge. Mehrmals im Monat sitzt sie dort stundenlang am Hörer. „Heide Volk“ ist ihr Deckname; sie soll auch hier anonym bleiben. „So schützen wir die Ehrenamtlichen und sorgen dafür, dass die Hemmschwelle gering bleibt“, sagt Lehner. „Denn wenn man weiß, da arbeitet jemand, den man kennt, ruft man nicht mehr so leicht an.“
Diese Idee des anonymen Gesprächs ist schon fast 60 Jahre alt, doch sie kommt nicht aus der Mode. Im Gegenteil: Seit 1962 gibt es die katholische Telefonseelsorge im Erzbistum München und Freising, mittlerweile in München, Mühldorf am Inn und Bad Reichenhall; insgesamt gehen hier pro Jahr über 33 000 Anrufe ein. Dazu 3000 Mails und 2000 Chats, denn seit einigen Jahren bietet die Telefonseelsorge auch einen Online-Dienst an. „Das ist noch direkter, weil die Stimme wegfällt“, sagt Lehner. Der 38-Jährige ist Diplom-Theologe, nebenamtlicher Mitarbeiter der Telefonseelsorge und dort zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. Auch er sitzt dort viele Stunden am Telefon und am Computer – speziell in diesem Jahr. Denn schon beim ersten Lockdown im März stieg die Zahl der Ratsuchenden extrem an, etwa um ein Drittel; den größten Anstieg gab es im Chat- und E-Mail-Bereich. „Gerade die 15- bis 30-Jährigen haben sich in der Zeit massiv gemeldet“, berichtet Lehner. Ähnliches hat er in den vergangenen Wochen unter dem Teil-Lockdown beobachtet. Auch viele junge Menschen leiden darunter, sagt er. Bei den jungen Leuten gehe es um Selbstfindung, Anpassung, Abnabelung, Trennung – aber vor allem um Einsamkeit. „Das war oft Thema.“ Auch wenn viele von ihnen eigentlich gar nicht allein sind. „Doch einsam kann man sich auch in einer großen Familie fühlen“, erklärt Volk.
Viele Anrufer jedoch sind wirklich allein. „Ein Anrufer sagte: Ich bin so froh, Ihre Stimme zu hören – ich habe seit drei Wochen mit niemandem mehr geredet“, erzählt sie. Bei allen Hilfesuchenden, jung oder alt, heißt es dann: gut zuhören oder mitlesen. „Oft bricht alles aus ihnen heraus. Das entlastet“, berichtet Volk. „Wir hören zu, aber wir erlauben uns auch, etwas zu sagen“, erklärt Lehner. „Das ist oft Wühl- und Schwerstarbeit: Zum Beispiel etwas finden, wofür man dankbar ist.“ Lehner und Volk jedenfalls wissen, wofür sie dankbar sind. „Dafür, dass die Anrufer uns Vertrauen schenken“, sagt Lehner. „Sie berühren uns, und wir berühren sie“, sagt auch Volk. „Ich gehe da total gerne hin. Und ich gehe danach zufrieden heim.“
Die Telefonseelsorge
ist rund um die Uhr erreichbar unter 0800/1110111 und 0800/1110222 oder unter www.telefonseelsorge.de.
Eine Anruferin sagt: „Ich habe seit Wochen mit keinem mehr geredet.“