VON SUSANNE BREIT-KESSLER* Eigentlich ist alles ganz anders

von Redaktion

Eigentlich … ein Wort, das als Überschrift über diesem Weihnachtsfest steht. Reisen, Besuche, Einladungen, Einkäufe, Geschenke – nahezu alles sollte eigentlich anders sein. Unbeschwerter, sorgloser, fröhlicher, leichtfüßiger. Oder wenigstens ruhiger und beschaulicher. Möglicherweise etwas Erschöpfung wegen der intensiven Festvorbereitungen, die übliche kleine Erkältung vielleicht, eine harmlose Magenverstimmung – nichts Ernstes.

Aber die vermeintlich selbstverständlichen Eigentlichkeiten des Weihnachtsfestes sind so ziemlich dahin. Gesundheitlich, wirtschaftlich, politisch, persönlich – jeder, jede hat damit zu tun, dass fast alles anders und bestimmt nicht schöner ist als üblich. In dem Moment, in dem entschwindet, woran man sich an Weihnachten beinahe fraglos gewöhnt hat, taucht wieder auf, was an diesem Fest eigentlich geschieht.

Eine Frau, viel zu früh schwanger und das nicht von ihrem Verlobten, ist deswegen in größter Gefahr. Die Todesstrafe droht ihr. Der Mann, dem sie versprochen ist, trägt sich mit dem Gedanken, sie zu verlassen. Ihn überfordert die Situation. Nur sozusagen traumhafte Eingebung von oben bewahrt ihn vor fahrlässigen Dummheiten und sie vor dem Tod. Neu vereint müssen die beiden, Maria und Josef, sich wegen einer Volkszählung auf den Weg machen. Am Zielort angekommen finden sie keine Unterkunft. Sie schlagen in einem Stall ihr Quartier auf. Dort, im Dampf aus den Nüstern der Tiere, wird das Baby geboren. Der Besuch beim himmlischen Kind besteht aus einer Mischung von rauen, einheimischen Schafhirten und gelehrten Orientalen, den Weisen aus dem Morgenland. Bald nach dieser Visite flieht die Familie ins Ausland und beantragt Asyl, weil der totalitär-panische Herrscher seine Macht von einem Kind bedroht sieht.

Eigentlich müsste der Herr des Himmels und der Erden doch anders aufscheinen. Stattdessen ist da schier unfassbare Bescheidenheit, viel Armut und Ernst. Gefahr für Leib und Leben immer präsent. Weihnachten hat eine erschütternd-tröstliche Botschaft parat. Gott nähert sich, wo Gewissheiten zerbrechen und das Herz sich ängstigt – er kommt mitten in die verstörte Welt. „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht traurig sein“ heißt ein ökumenisches Weihnachtslied.

In der ehemaligen DDR wurde die Abdruckerlaubnis für den Text einmal verweigert, weil – wie gesagt wurde – „es hier keine tiefste Nacht gibt“. Leugner der Realität existieren immer und überall. Die Nacht, in der wir leben, ist manchmal traurig, zum Erschrecken oder zumindest wehmütig. Das Lied endet mit der Zeile „weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht endlos sein“. Das ist ein Wort. Eines, das im Eigentlichen Anlass zu Hoffnung gibt.

* Susanne Breit-Keßler ist Vorsitzende des Ethik-Rates. Ihre Kolumne erscheint alle zwei Wochen.

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