An das Weihnachtsfest 2020 wird man sich noch in Jahrzehnten erinnern. Ausgangssperre, Kontaktbeschränkungen, Zehntausende Menschen infizieren sich mit Corona. Täglich gibt es hunderte von Toten. Welchen Trost, welche Hoffnung gibt es? Wir sprachen darüber mit dem Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx.
„Fröhliche Weihnachten“ kann man 2020 nicht wünschen, Herr Kardinal. Das Leben steht still wegen der unerbittlichen Pandemie, es gibt strikte Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren. Fällt Weihnachten aus?
Weihnachten fällt nicht aus. Gott ist mitten in den Problemen, mitten im Leid der Welt Mensch geworden. Das ist die große christliche Botschaft. Gott ist nicht jenseits der Sterne zuhause, sondern da, wo die Menschen sind. Bei den Einsamen, Kranken, Schwachen. Aber auch da, wo sich in diesem Jahr eher weniger Menschen um den Tisch versammeln und miteinander Weihnachten feiern. Das finde ich sehr tröstlich, gerade jetzt in der Coronazeit.
Bis zu 1000 Tote täglich, Infiziertenzahlen von über 30 000. Können Sie da guten Gewissens Gottesdienste anbieten, wo Menschen aus vielen verschiedenen Haushalten zusammenkommen?
Wir haben uns das gut überlegt. Die Pfarrgemeinden bereiten seit Wochen die Gottesdienste intensiv vor und setzen die Auflagen mit großem Engagement um. Dafür bin ich sehr dankbar. Wir sind in einer anderen Situation als an Ostern, als wir nichts wussten über die Krankheit und auch noch keine überzeugenden Hygienekonzepte hatten. Jetzt an Weihnachten ist das anders. Aber jeder muss für sich entscheiden, ob er zum Gottesdienst kommt. Ich sehe auch die vielen, die gerade in dieser Zeit hungern nach einer Begegnung, nach einem Gottesdienst, nach der Feier der Eucharistie. Man darf nicht unterschätzen, dass das eine Quelle der Hoffnung und des Trostes ist für viele Menschen. Das wollen wir auf jeden Fall ermöglichen.
In Westfalen hat die evangelische Kirche alle Präsenzgottesdienste zu Weihnachten abgesagt. War eine Absage überhaupt eine Option für Sie? Wir haben im Kreis Mühldorf zur Zeit eine Sieben-Tage-Inzidenz von 298.
Man kann nicht generalisieren und muss stets auf neue Entwicklungen reagieren. Das kann letztlich in gravierenden Situationen auch immer vor Ort entschieden werden in Absprache mit den Gesundheitsämtern, den Landräten und der Regierung. Vonseiten der Staatsregierung gab es bis jetzt keinen Hinweis, dass man öffentliche Gottesdienste überhaupt nicht mehr feiern könnte.
Die katholischen Bischöfe in Bayern haben bis zuletzt versucht, Ausnahmen von der Ausgangssperre zu bekommen, um Christmetten nach 21 Uhr zu ermöglichen. Die Staatsregierung hat das abgelehnt. Warum wollten Sie eine Sonderregelung für die Kirche?
Es schien uns schwer zu vermitteln, warum um 19 Uhr ein Gottesdienst sein kann, ab 21 Uhr aber nicht mehr. Wir waren dafür, den Ablauf des Heiligabends zeitlich zu entzerren, indem mehrere Gottesdienste auf den Abend verteilt gefeiert werden. Wir wollten möglichst vielen Menschen ermöglichen, zu einem Weihnachtsgottesdienst zu gehen. Gerade bei uns hier in Oberbayern hat die Christmette eine sehr große Bedeutung. Durch das Licht mitten in der Nacht leuchtet ganz besonders die Hoffnung des Weihnachtsfestes auf. Aber wir können in dieser besonderen Situation damit leben, und wir werden in Freude auch unter diesen Bedingungen Weihnachten feiern.
Nach Ostern hatte man den Kirchen vorgeworfen, Menschen allein gelassen zu haben, als Präsenzgottesdienste abgesagt wurden und nur ins Internet gestellt wurden. Wie schwierig ist es, hier die richtige Balance zu finden?
Ostern hatten wir schon vor der Regelung der Staatsregierung entschieden, alle öffentlichen Gottesdienste zu unterlassen, weil wir noch keine ausreichenden Schutzkonzepte hatten. Die Situation ist nicht zu vergleichen mit heute, wo wir über Monate Erfahrungen gesammelt haben. Beides muss sein: Wir werden Präsenzgottesdienste haben und wir werden per Live-Stream alle mitnehmen, die zuhause sind und dort mitfeiern möchten. Und wir sind mit unseren Seelsorgerinnen und Seelsorgern besonders bei den Kranken und Schwachen.
Was steht für Sie an oberster Stelle: das Recht auf Religionsausübung oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit?
Das sind Grundrechte, die nicht isoliert stehen, sondern miteinander in Verbindung gebracht werden müssen. Es gibt kein einzelnes Grundrecht, das alle anderen außer Kraft setzt. Die Religionsfreiheit gehört zu den zentralen Grundrechten, aber auch sie hat dort Grenzen, wo Menschenleben gefährdet wären. Der Staat hat hier eine Abwägung zu treffen. Die Parlamente und Regierungen treffen dann Entscheidungen und handeln. Dagegen kann man vor Gericht klagen, die Justiz überprüft das dann. Ich bin der Meinung, dass unser demokratischer Rechtsstaat das ganz gut hinbekommen hat – das politische System in Deutschland hat sich auch in dieser Krise bewährt.
Welches „Weihnachtsgeschenk“ hat die Kirche für die Menschen in Zeiten der Coronakrise?
Unser Weihnachtsgeschenk ist die christliche Botschaft selbst: Gott, der Retter ist da! Er will bei uns zu Hause sein. Es gibt die schöne bayerische Serie „Dahoam is dahoam“. Nicht grundlos ist sie so beliebt, weil die Menschen mit Heimat etwas Positives verbinden. Ich sage: Gott ist dahoam bei uns. Diese Botschaft ist umwerfend. Gott verschanzt sich nicht hinter Kirchenmauern und in Tempeln. Gott ist da, wo die Menschen sind – und das wird sichtbar in der Geburt dieses Menschen Jesus von Nazareth. Er kommt zu uns, auch in diesem Corona-Jahr, in dem die ganze Welt die Katastrophe der Pandemie erdulden muss. Er geht mit uns. Was für ein Trost! Es gibt eine Wirklichkeit, die über unsere begrenzten eigenen Möglichkeiten hinausweist. Das wird an Weihnachten sichtbar.
Wie sehr ist Ihnen noch zum Feiern zumute, Herr Kardinal? Jeden Tag gibt es in der Kirche neue Schreckensmeldungen über Missbrauch, Gewalt und Vertuschung durch Geistliche. Wie kann man da noch feiern?
Man darf diese Krise nicht schönreden und beiseiteschieben, auch nicht an Weihnachten! Die Kirche muss sich diesen dunklen Seiten stellen. Ich werde nicht müde, das persönlich und in meinem Amt als Erzbischof zu tun. Verdrängung ist keine Strategie – das gilt für alle Katastrophen und Krisen. Wir sollten aber auch deutlich machen, dass Resignation nicht die Antwort sein kann, sondern tatkräftige Neuorientierung. Und das geht nur, wenn die Hoffnung größer ist als die Angst. Der Grund der Hoffnung sind nicht wir, sondern der Mensch gewordene Gott, den wir vor aller Welt bezeugen wollen. Das darf und muss man feiern. Ohne Fest gibt es keine Hoffnung.
Wie werden Sie das Weihnachtsfest begehen?
Ich freue mich auf die Gottesdienste. Leider kann ich nicht, wie üblich, am Heiligabend und am ersten Weihnachtstag Gäste einladen. Wir werden im kleinen Kreis, die beiden Schwestern, der Kaplan und ich, Weihnachten feiern. Auch das kann eine schöne Feier werden.
Welche Hoffnung haben Sie für das neue Jahr?
Ganz konkret wünsche ich mir, dass die Menschheit die Pandemie im neuen Jahr besiegt. Impfstoffe sind gefunden, man sieht Licht am Ende des Tunnels! Viele Menschen sind zusammengerückt in der Krise. Schauen wir nicht nur auf das, was nicht funktioniert hat. Schauen wir auf die Solidarität und das Engagement in Heimen, Krankenhäusern, in der Nachbarschaft, in den Familien. Nehmen wir das mit in die Zukunft! Wir müssen nicht verzweifeln, es gibt eine Hoffnung, die unzerstörbar ist und die sich im Leben der Menschen zeigt. Auch 2021 ist ein Jahr des Herrn. Das Licht ist stärker als die Nacht!
Interview: Claudia Möllers