München/Penzberg – Die meisten dürften wohl an Superhelden denken, wenn sie den Namen Marvel hören. Mit dem weltberühmten Comicverlag hat das das Münchner Unternehmen „Marvel Fusion“ aber nichts am Hut. In den nächsten Jahren will das Start-up ein Fusionskraftwerk bauen – nach kontroversen Debatten hat der Penzberger Stadtrat am Dienstagabend einem Grundstücksverkauf zugestimmt. „Wir wollen eine CO2-freie, sichere und verlässliche Energiequelle zur Verfügung stellen“, sagt Heike Freund, die das operative Geschäft leitet. Ohne Atommüll. Wenn man es so sieht: Superhelden-Potenzial hat das Ziel von Marvel Fusion allemal.
Wunder-Verschmelzung – so lässt sich der Unternehmensname übersetzen. Marvel Fusion will eines der größten Probleme der Physik lösen: Energiegewinnung durch Kernfusion. Wissenschaftler forschen bereits seit den 50er-Jahren an dieser Idee. Man will durch die Verschmelzung von Atomen Energie gewinnen – so wird auch die gewaltige Energie innerhalb der Sonne erzeugt. Bisher ist es aber noch nie geglückt, auf diese Art wirtschaftlich nutzbaren Strom zu gewinnen. Einige Physiker sehen auch keine Lösung in absehbarer Zeit. Heike Freund ist hingegen optimistisch: „Wir wollen 2030 so weit sein.“ Das könnte die Welt verändern, sagt sie.
„Jetzt ist die Zeit, jetzt kann es funktionieren.“ Warum? Eine neue Laser-Technologie soll das Wunder verwirklichen. Hinter dem Start-up stehe ein Netzwerk an Wissenschaftlern, die an diesem laserbasierten Ansatz tüfteln. Darunter zum Beispiel Gérard Mourou – 2018 erhielt der Physiker einen Nobelpreis für Erfindungen im Bereich der Laserphysik. Jetzt sitzt er im Beirat von Marvel Fusion.
Die Idee des Fusionskraftwerks entspricht im Prinzip dem Gegenteil von Atomkraftwerken: Atomkerne sollen fusioniert, nicht gespalten werden – so wird Energie freigesetzt, ohne Tonnen von Atommüll zu produzieren. Einfach gesagt: „Wir wollen Teilchen, die sich eigentlich abstoßen, zusammenbringen“, erklärt Freund. „Das macht das Ganze so extrem schwierig.“
Andere Unternehmen würden das mit Magnetfusion versuchen – mit dieser Technologie wird zum Beispiel der Kernfusionsreaktor Iter in Südfrankreich gebaut. „Wir glauben aber, dass der Weg mit der laserbasierten Fusion deutlich zielführender ist, um letztlich auch ein kommerzielles Fusionskraftwerk auf die Beine zu stellen“, sagt Freund. Die Zauberformel: ein hochintensiver Laser, der bis zu zehnmal pro Sekunde Treibstoff beschießt. Die Treibstoffkügelchen beruhten auf neuesten Erkenntnissen der Materialforschung. „Die Kombination aus beidem, Laser und Treibstoff, zeigt in unseren Simulationen und Experimenten, dass wir auf einem sehr vielversprechenden Weg sind.“
Ob das stimmt, kann aber nur die Praxis zeigen. 200 bis 300 Millionen Euro sollen in den Bau einer Forschungsanlage fließen. Danach soll ein Prototyp für das Fusionskraftwerk gebaut werden – das würde etwa zwei bis drei Milliarden Euro kosten, sagt Freund. „Aktuell werden wir nur durch private Investoren finanziert, wir sind aber auch schon mit größeren Industrieunternehmen in Kontakt und sind auch an öffentlicher Förderung interessiert“, sagt sie. BMW-Großaktionärin Susanne Klatten soll zu den Geldgebern gehören, wie die Beteiligungsgesellschaft Skion auf Nachfrage bestätigte. Freund selbst möchte sich dazu aber nicht äußern.
Womöglich ist das einer der Gründe, weshalb Marvel Fusion auch trotz Mehrheit nicht das komplette Vertrauen im Penzberger Stadtrat genießt. Das Unternehmen habe zu viele Fragen nicht beantwortet, nicht nur zu Geldgebern, sondern auch zum Businessplan oder den Folgen im Falle eines Misserfolgs. Auch Auswirkungen auf die Infrastruktur wie den Wohnungsmarkt werden durch die Ansiedlung des Unternehmens befürchtet. Monatelang hat der Stadtrat deshalb um die Frage gerungen, ob dem Unternehmen das letzte Industriegrundstück in Penzberg verkauft werden soll. Seit Juli gab es vier Sitzungen, erst hinter verschlossenen Türen, dann öffentlich.
Im fünften Akt fiel am Dienstagabend die Entscheidung mit 16:9-Stimmen für einen Verkauf. Die Uneinigkeit im Stadtrat, hieß es, bilde auch die Stimmung in der Bevölkerung ab. Im vergangenen Oktober hatte die Stadt Penzberg – was eher unüblich ist – den Wunsch von Marvel Fusion nach einem städtischen Grundstück öffentlich gemacht. Vertreter des Unternehmens sollten ihre Pläne für das kommerzielle Fusionskraftwerk vorstellen. Die Kommentare im Stadtrat reichten von „Weltsensation“ bis zu „ein bisschen Bauchweh“.
Von Anfang an warben die CSU als stärkste Fraktion und Bürgermeister Stefan Korpan (CSU) für einen Grundstücksverkauf. Bedenken kamen aus der Wählergruppe „Penzberg miteinander“ sowie von SPD und Grünen.
Um die Bevölkerung einzubinden, schrieb die Stadt rund 40 Personen an, um Fragen an Marvel Fusion zu stellen. Dabei stellte sich heraus, dass es zum großen Teil Sicherheitsbedenken wegen Radioaktivität gab. Immer lauter wurde damals der Ruf in Penzberg, externe Experten zu fragen – was im Dezember bei einer öffentlichen Anhörung auch geschah. Dort stellten Plasmaphysiker Hartmut Zohm vom Max-Planck-Institut, Laser-Experte Reinhard Kienberger von der TU-München und Ursula Kastl vom Fachverband für Strahlenschutz ein gutes Zeugnis aus. Wobei die Aussicht, dass ein Prototyp für ein Fusionskraftwerk bereits 2030 steht, als eher gering eingeschätzt wurde.
Marvel Fusion selbst hat die Entscheidung zum Grundstücksverkauf zwar freudig begrüßt. Zugleich lässt das Unternehmen Penzberg aber plötzlich zappeln – es werde jetzt auch weitere Grundstücke prüfen, hieß es.