Der Münchner, der (fast) alles weiß

von Redaktion

VON KATJA KRAFT

Harald Lesch ist ein sanftmütiger Kerl. Aber bei einer Sache platzt dem Wissenschaftler und TV-Moderator („Leschs Kosmos“) die Hutschnur. Dann nämlich, wenn er mit Freunden zusammensitzt, man gerade mitten in einer hitzigen Diskussion ist – die einer abrupt durch den Blick aufs Smartphone beendet. „Sich gemeinschaftlich auf die Suche nach einem Begriff zu machen, ist doch viel interessanter, als dazu eine anonyme Suchmaschine zu verwenden. Als es noch kein Google gab, sind wir doch während des Abendessens auch nicht an den Bücherschrank gegangen. Das finde ich schon sehr schade, dass da Gespräche einfach abgebrochen werden“, formulierte es der 60-Jährige einmal im Gespräch mit unserer Zeitung. Und beschrieb damit ziemlich genau, wohin uns die alles verändernde Erfindung Internet geführt hat – nämlich weg von dem Ideal des Universalgelehrten, der sich fundiertes Wissen in allerlei Bereichen aneignet, hin zu kognitiven Eintagsfliegen, die alle paar Minuten „Wer am schnellsten googelt“ spielen.

Auch Peter Grünlich ist fix in der Internetsuche. Und notorisch neugierig. Berufskrankheit. Der 48-jährige Münchner ist Journalist, trägt eigentlich einen anderen Namen, doch veröffentlicht seine Bücher unter Pseudonym. Er hatte sich was in den Kopf gesetzt, das sich, so gesteht Grünlich gleich zu Beginn unseres Gesprächs, bei der Umsetzung teilweise ganz schön zäh gestaltete. Nichts weniger als die gesamte Online-Enzyklopädie Wikipedia durchzulesen, war sein Plan. Spoiler: Er hat es nicht geschafft. Weil das Unterfangen von Grund auf zum Scheitern verurteilt war. Elf Jahre würde es einer Berechnung nach dauern, alle existierenden Wikipedia-Artikel zu lesen. Bei durchschnittlicher Lesegeschwindigkeit und vorausgesetzt, man würde Tag und Nacht vor dem Bildschirm sitzen. „Aber selbst dann hätte man keine Chance“, sagt Peter Grünlich. „Denn hätte man nach elf Jahren den jetzigen Datenbank-Inhalt durchgearbeitet, wäre in der Zwischenzeit eine mindestens genauso große Datenmenge hinzugekommen.“

Peter Grünlich beschränkte sich also auf ein Jahr. Zwölf Monate, in denen er in jeder freien Minute in Wikipedia stöberte, sich an Stellen festlas, einer Weiterverlinkung nach der anderen folgte, um sich in diesem schier unendlichen Wissensschatz immer wieder völlig zu verlieren. Herausgekommen ist am Ende ein neues Buch des Bestsellerautors mit dem sprechenden Titel „Der Alleswisser. Wie ich versucht habe, Wikipedia durchzulesen, und was ich daraus gelernt habe“. Es liest sich wie eine ausführlichere Version der beliebten „Stern“-Reihe „Unnützes Wissen“. Mit allerlei Aha-Momenten – ganz ohne Corona-Pandemie.

„Du musst heute nichts mehr wissen – du musst nur noch wissen, wo es steht.“ Ein Zitat von Jimmy Wales. Wer das ist? Zehn Buchstaben und eine Enter-Taste später erscheint auf dem Bildschirm die Antwort: „Jimmy Donal ,Jimbo‘ Wales ist ein US-amerikanischer Internet-Unternehmer, der vor allem als Mitbegründer der Online-Enzyklopädie Wikipedia bekannt wurde.“ 54 Jahre ist er alt, zum dritten Mal verheiratet und, auch das verrät uns das Netz, verfügt über ein geschätztes Vermögen von einer Million US-Dollar. Letztere Info enttäuscht ein bisschen. Der Mann, der Wikipedia schuf, der Mann, der das Ideal hatte, Wissen für alle jederzeit und von jedem Ort der Welt (mit Internetanschluss) verfügbar zu machen, dieser Mann soll dafür weniger belohnt werden als die Kerle, die uns via Amazon die billigsten Konsumartikel hinterherschmeißen (Jeff Bezos, geschätztes Vermögen: 184 Milliarden US-Dollar) oder unsere Selbstdarstellung im Internet auf ein neues Level heben (Mark Zuckerberg, geschätztes Vermögen: 102 Milliarden US-Dollar)?

So ist es wohl. Denn Wikipedia ist auch im 20. Jahr ihres Bestehens ein gemeinnütziges Projekt. Am 15. Januar 2001 tippte Jimmy Wales die zwei Wörter „Hello World“ in eine neue Wiki-Software ein, die einen schnellen Aufbau eines Online-Lexikons ermöglichen sollte. Der Grundstein für einen der wichtigsten nicht-kommerziellen Dienste der Internet-Geschichte war gelegt. Seither wächst die Datenbank rasant an. Jede Sekunde werden von fleißigen ehrenamtlichen Autoren auf der ganzen Welt Artikel hinzugefügt, bestehende überprüft und aktualisiert. Hinter allem steht die Wikimedia Foundation, eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in San Francisco. In vielen Ländern arbeiten darüber hinaus unabhängige Wikimedia-Vereine mit der Stiftung zusammen.

Mehr als 55 Millionen Beiträge in knapp 300 Sprachen versammelt die Plattform mittlerweile. Wo anfangen? „Erst dachte ich mir: ganz klassisch beim Buchstaben A. Und von dort wollte ich mich immer weiter durcharbeiten“, erzählt Grünlich. Er hielt es dann aber schnell mit Bertolt Brecht: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen.“ Zu langweilig wäre das sture Entlanghangeln am ABC gewesen. „Ich musste ziemlich schnell feststellen, dass es auf Wikipedia endlos viele vollkommen belanglose Persönlichkeiten gibt – aserbaidschanische Luftgewehrschützinnen zum Beispiel, die einmal den 45. Platz gemacht haben bei irgendeiner olympischen Disziplin.“

Also weg von A wie Aserbaidschan hin zu Z wie Zufall. Grünlich stürzte sich mit den Fingern auf der Tastatur voraus in die digitale Wissenswelt hinein. Ohne jeden Plan – außer der lockeren Vorgabe: Interessant ist, was interessiert. Er folgte fortan dem Pfad der Überraschungen. „Oft habe ich mich in einen Artikel eingelesen und nach einigen drögen Absätzen schon gar nicht mehr erwartet, dass da noch was Spannendes kommt“, erzählt er, – „wurde dann aber immer wieder eines Besseren belehrt. Fast alle Menschen, Wesen, Pflanzen besitzen dann doch irgendein überraschendes Detail, bei dem man denkt: Wow, das hätte ich jetzt gar nicht erwartet!“ Dass der Autor des Kinderbüchleins „Bambi“ derselbe ist wie der der Erotikgeschichten um Josefine Mutzenbacher zum Beispiel. Genauso spannend das Leben in anderen Ländern. In Brasilien, so erfahren wir vom „Alleswisser“, können Häftlinge ihre Haft verkürzen, indem sie Bücher lesen und darüber einen Aufsatz schreiben. Vier Tage pro Buch. Oder die Sache mit Michael Malloy, einem obdachlosen irischen Wanderarbeiter, der während der 1920er- und 1930er-Jahre in New York lebte. Bekannte wollten ihn töten, um an seine Lebensversicherung heranzukommen – doch egal, ob sie ihm Frostschutzmittel in sein Schnapsglas füllten oder Terpentin, Pferde-Liniment und Rattengift – Malloy überlebte. Also versuchten sie es mit rohen Austern, getränkt in Methanol – Malloy überlebte. Auch ein Sandwich mit verdorbenen Sardinen, versetzt mit Gift und Teppichnägeln, bekam Malloy von ihnen im Rausch serviert – und überlebte. Nun versuchten die kreativen Täter es auf eine andere Weise: In einer Nacht brachten sie den völlig betrunkenen Malloy in einen Park, bei Temperaturen von minus 26 Grad, bewarfen ihn mit Schnee, übergossen ihn mit Wasser. Machen wir es kurz: Malloy überlebte. Übrigens auch den nächsten Anschlag: Einer der vermeintlichen Freunde überfuhr ihn mit seinem Taxi mit einer Geschwindigkeit von 72 Stundenkilometern. Wie Michael Malloy am Ende dann doch ums Leben kam? Der „Alleswisser“ verrät’s. Mit einem Schlauch flößten die Lebensversicherungs–Gierigen Malloy Gas in den Mund ein. Innerhalb einer Stunde war er tot.

Sind’s irrsinnige Geschichten wie diese, die Grünlich auf Dauer bei der Stange gehalten haben? „Absolut. Das ist schon, was ich mir gedacht habe – dass um die nächste Ecke wieder eine unerwartete, manchmal haarsträubende Information wartet. Das ist, was unsere Welt ausmacht: Wer genau hinschaut, findet immer wieder wunderschöne Sachen.“

Und, noch schöner, jeder neugierige Mensch mit Internetzugang kann durch Wikipedia daran partizipieren. Aber vielleicht macht man es, wie von Harald Lesch empfohlen: Vor dem Googeln erst einmal die eigene Hirnmasse bemühen. Und sich danach mit einem Überprüfungsblick auf Wikipedia freuen, dass man nicht ganz falsch lag. Dann macht das weitere Durchklicken umso mehr Spaß – auf der Suche nach lauter herrlich kuriosen Wunderlichkeiten, die überall warten, wenn man nur genau hinschaut.

Peter Grünlich:

„Der Alleswisser. Wie ich versucht habe, Wikipedia durchzulesen, und was ich daraus gelernt habe“. YES Verlag, 272 S.; 14,99 Euro.

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