Schliersee – Sein Lebenswille war unbändig. Sechs Mal hat Nicolas Kutter den Krebs besiegt, sechs Mal kehrte die Krankheit zurück. Immer an Nicis Seite: seine Mama Solveig. Vor knapp zwei Jahren starb er in ihren Armen. Damals war er erst 19 Jahre alt. Bis heute kämpft seine Mutter dafür, das Vermächtnis ihres Sohnes selbst zu leben: nie aufzugeben, immer positiv nach vorne zu schauen.
Dabei steht sie vor einer Herkulesaufgabe. Denn ihre Familie muss neben der Trauer auch die seelischen und die finanziellen Folgen des Krebsdramas bewältigen. Vor Kurzem musste Solveig Kutter Hartz IV beantragen. Ihre Ehe ist zerbrochen, mit ihren drei Söhnen Emilio (8), Antonio (11) und Leonardo (17) lebt sie in einem Haus am Schliersee im Kreis Miesbach. Ihren Job hat sie verloren – und der Versuch, einen neuen zu finden, ist in Corona-Zeiten nahezu aussichtslos. Zumal die 46-Jährige als Alleinerziehende nur bedingt flexibel ist. „Ich würde gerne halbtags arbeiten, am liebsten einen Bürojob als Assistentin, aber ich bin mir für keine andere Arbeit zu schade. Und mir wäre auch kein Arbeitsweg zu weit“, sagt die studierte Betriebswirtin.
Um finanziell über die Runden zu kommen, hat sie sich Geld bei Freundinnen geliehen. „Das ist aber irgendwann aufgebraucht, und ich will die Darlehen unbedingt so schnell wie möglich zurückzahlen.“ Wenn das Jobcenter ihrem Hartz-IV-Antrag stattgibt, erhält sie monatlich einen Regelsatz von 446 Euro. Für Kinder, die bei ihnen leben, bekommen Eltern gestaffelt nach Alter bis zu 357 Euro. Kindergeld rechnen die Behörden an. Etwaige Unterhaltszahlungen sind Sache der Rechtsanwälte. Über die Unterstützung würde sich Solveig Kutter freuen, Scham empfindet sie nicht. „Ich glaube daran, dass alles wieder gut werden wird.“ Sie verschwendet keine Energie dafür, mit ihrem Schicksal zu hadern: „Jetzt zu resignieren, kommt für mich nicht infrage. Ich habe wunderbare Kinder, die mich brauchen. Und Nici wäre enttäuscht von mir, wenn ich aufgeben würde. Er hat immer gesagt: ,Mama, ich habe deine Kraft geerbt.‘ Ich will ihm zeigen, dass ich für unsere Familie kämpfe. Ich glaube fest daran, dass er immer bei uns ist.“
Die Nähe zu Nici über seinen Tod hinaus ist wichtig für die Kutters. „Es geht darum, einen neuen Platz für ein verstorbenes Kind zu schaffen“, sagt die Sozialpädagogin Ulla Baier-Schröder (siehe Interview), die die Familie Kutter begleitet. „Es ist wichtig, die Lebensgeschichte des Kindes zu verinnerlichen und anzuerkennen, was es in seinem Leben geleistet hat.“
Nici hat nahezu Übermenschliches geleistet. Er hielt brutalste Schmerzen aus, steckte viele Rückschläge weg und ließ sich von den niederschmetternden Prognosen nicht entmutigen – selbst dann nicht, als seine Überlebenschancen auf ein Minimum sanken. „Wahrscheinlichkeiten interessieren mich nicht “, hat Nici mal im Gespräch mit unserer Zeitung gesagt. „Wenn die Wahrscheinlichkeit einer Heilung bei einem Prozent liegt, dann heißt das für mich nur eins: dass ich eine Chance habe – und die werde ich nutzen.“
Dabei dachte Nici nicht nur an sich selbst, sondern auch an viele Leidensgenossen. „Er wollte Arzt werden, um anderen zu helfen, um etwas gegen Leukämie zu finden“, sagt seine Mama. Die Forschung faszinierte ihn. Seine damals experimentelle Therapie mit Car-T-Zellen bezeichnete er als „meine persönliche Mars-Mission“.
Die letzten vier Monate vor seinem Tod verbrachte Nici in einem Kinderkrankenhaus in den USA, dort bekam er im Rahmen von klinischen Studien die vielversprechende Behandlung, die ihm zuvor bereits einmal das Leben gerettet hatte. Der zweite Versuch schlug fehl. Doch inzwischen haben die Wissenschaftler große Fortschritte bei der Weiterentwicklung der Therapie gemacht. „Nici wollte mithelfen, dass auch andere Kinder überleben“ – über den eigenen Tod hinaus. Noch zu Lebzeiten hat er dem Seattle Children’s sein Gehirn zu Forschungszwecken vermacht. Sein Körper wurde eingeäschert, die Urne steht bei Freunden der Familie in den USA. „Nici wollte das so“, sagt seine Mama, „wir respektieren seinen Wunsch.“ Doch im Herzen haben ihn seine Lieben mit nach Deutschland genommen. „Wir haben in unserem Haus Bilder von ihm aufgestellt. Ich sage ihm jeden Tag guten Morgen und gute Nacht.“ Auch beim Blick auf die Schlierseer Hausberge denkt Solveig Kutter viel an ihren ältesten Sohn. Er ist oft mit den Skiern am Rosskopf unterwegs gewesen, oder zu Fuß auf der Brecherspitze. So gut es seine Krankheit eben zuließ, selbst wenn es ihm nicht so gut ging – weil er es unbedingt wollte. Der Glaube kann Berge versetzen, sagt man. So gesehen hätte Nici wohl das ganze Mangfallgebirge aus den Angeln heben können.