Steile Thesen des Lehrerverbandschefs

von Redaktion

VON DIRK WALTER

München – Heinz-Peter Meidinger liebt die provokative These. Er ist ein Konservativer, sogar CSU-Mitglied („aber nur Karteileiche“), aber er eckt eben gerne an und schont niemanden. In seiner Zeit als Leiter eines Deggendorfer Gymnasiums war er ein scharfer und kluger Kritiker des G 8 und der CSU-Bildungspolitik.

Seit diesem Schuljahr ist Meidinger im Ruhestand – und doch in Politik und Medien gefragter als je zuvor. Er ist bis 2023 als Präsident des Deutschen Lehrerverbands gewählt. Neuerdings schätzt ihn auch Markus Söder als Gesprächspartner, er holt sich öfters Rat. Meidinger sieht das große Ganze, kennt sich aber auch im Detail aus (wobei ihm zugute kommt, dass seine Ehefrau noch im Schuldienst ist). Seinem Buch über die „Zehn Todsünden der Schulpolitik“ (Claudius Verlag, 15 Euro) kann man in vielem zustimmen. Manchmal aber auch nicht.

Meidingers erste These, dass wir eine „mit Zielvorgaben überfrachtete Schule“ haben, ist sicher richtig – obwohl das den Schulalltag weitgehend unberührt lässt. Es stimmt schon: Jeder gesellschaftliche Missstand soll in der Schule repariert werden. In Deutschland gibt es einen Machbarkeitswahn, als könne Schule alles regeln. 40 Vorschläge für neue Fächer hat Meidinger gezählt, vom Schulfach „Glück“ über „Benehmen“ und „Verbraucher- oder Klimaschutz“ ist alles vertreten, was uns akut drückt. „Schule als Reparaturbetrieb der Gesellschaft“ also. Meidinger hat auch Recht, wenn davor warnt, Schule für pädagogische Experimente zu missbrauchen. Er nennt das „eine Reformsau nach der anderen durch unsere Schulen treiben“. So hat das lange fast ideologisch betriebene „Schreiben nach Gehör“ unter Grundschülern einigen Schaden angerichtet. Auch der Versuch, den Fremdsprachen-Erwerb schon in die Grundschule zu verlagern, ist – wie Meidinger richtig schreibt – im Großen und Ganzen versandet. Man müsste die Kinder schon in ein englisches Sprachbad tauchen, um hier nachhaltige Erfolge zu erzielen.

Als Konservativer hat sich Meidinger lange an den schulideologischen Prinzipien des rot-grünen Lagers abgearbeitet – namentlich am Ziel einer „egalitären Einheits- oder Gesamtschule“. Er erkennt eine „bis heute andauernde Polarisierung und Ideologisierung der Bildungspolitik“. Das sind freilich Kämpfe von gestern, die Meidinger da aufwärmt. Auch die Grünen als größte Profiteure des deutschen Bildungsbürgertums erkennen heute den Wert des Gymnasiums an, von Gesamtschule ist nirgendwo mehr die Rede.

Neu ist allenfalls, dass beim Bestreben nach Inklusion – also nach einer Integration behinderter Kinder in Regelklassen – manchmal übertrieben wird. Nicht jedes Kind ist dafür geeignet. Vor der Abschaffung von Förderschulen warnt Meidinger zu Recht. Aber das will auch niemand mehr – die Linke hat aus dem gescheiterten Versuch in Nordrhein-Westfalen, der mit zur Abwahl von Hannelore Kraft als Ministerpräsidentin einer rot-grünen Koalition führte, ihre Lehren gezogen.

Nicht mehr folgen kann man, wenn Meidinger der aktuellen Schulpolitik im Corona-Jahr ein „katastrophales Krisenmanagement“ vorwirft. Klar, die Digitalisierung ist schwierig. Aber die von ihm scharf kritisierten, je nach Bundesland unterschiedlichen Corona-Regeln im Schulbetrieb erklären sich in erster Linie durch die unterschiedlich hohen Infektionszahlen. Hier Gleichheit in Deutschland anzustreben, würde den Bildungsföderalismus untergraben, auf den Meidinger an anderer Stelle ja so stolz ist. Ob jetzt jedem Schüler die Einser nur so hinterher geworfen werden, wie Meidinger im Kapitel über das „Bestnotenprinzip“ suggeriert, kann man bezweifeln (wahr ist, dass es aufgrund der stärken Gewichtung mündlicher Noten im G 8 mehr 1,x-Abiturienten gibt). Auch sein Urteil über ein „Totalversagen bei der Lehrerversorgung“ wirkt übertrieben. Und gänzlich schräg ist, dass Meidinger die angebliche Vernachlässigung der beruflichen Bildung zu einer „Todsünde“ hochschreibt. Das duale System in Deutschland mit eigenständigen Berufsschulen wird international nach wie vor gelobt und es ist auch nicht so, dass das Gymnasium die „neue Hauptschule“ wäre – die Übertrittsquote etwa in Bayern ist mit 40 Prozent seit Jahren konstant.

Fazit: Bei so vielen Todsünden müsste die Schule längst am Ende sein. Man ist nach der Lektüre der Streitschrift fast erstaunt, dass sie trotz aller Alarmrufe noch immer leidlich gut funktioniert.

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