Ein Jahr Corona in Bayern – eine Zeitreise zurück

von Redaktion

Im Blindflug durch die Pandemie: Am Anfang hatten Politiker, Virologen und Medien keine Vorstellung, was noch kommt. Wir dokumentieren frühe Corona-Berichte aus unserer Zeitung

VON MARCUS MÄCKLER

Vor etwas mehr als einem Jahr lernt die Welt ein neues Wort: Es heißt Corona und entfaltet in sehr kurzer Zeit sehr großen Schrecken. Mehr als 100 Millionen Menschen haben sich seither weltweit mit dem Virus infiziert, 2,3 Millionen sind gestorben. Die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, politischen Folgen der Jahrhundert-Pandemie lassen sich auch heute noch nicht in Gänze abschätzen. Dennoch haben wir im vergangenen Jahr viel gelernt. Wie viel, das lässt sich ganz gut daran ablesen, wie sehr Politiker, Mediziner und auch die Medien zu Beginn der Krise im Dunkeln tappen. Eine Zeitungs-Zeitreise zu den Anfängen einer schon jetzt historischen Pandemie.

Ein asiatisches Rätsel

Es beginnt mit einer kleinen, unscheinbaren Meldung am Neujahrstag 2020. „Eine mysteriöse Lungenkrankheit ist in der chinesischen Metropole Wuhan ausgebrochen“, steht rechts unten auf unserer Weltspiegel-Seite. Daneben ein Skandälchen um den Papst, das im Nachhinein beinahe ein wenig prophetisch wirkt. Franziskus hat einer allzu enthusiastischen Gläubigen einen Klaps auf die Hand gegeben, weil sie seine nicht loslassen wollte. Dass das Händeschütteln bald ganz zum Tabu werden würde, konnte ja keiner ahnen.

Die Sache in China ist jedenfalls kaum mehr als eine Randnotiz, die Erkrankung hat ja noch nicht mal einen Namen und von diesem Wuhan – elf Millionen Einwohner groß – hören die meisten auch zum ersten Mal. Viel ernster scheint es erst mal nicht zu werden. In den folgenden Tagen entschlüsseln Forscher die Gensequenz des Erregers. Mitte Januar wird das „neuartige Coronavirus“ erstmals außerhalb Chinas nachgewiesen – bei einer 61-Jährigen in Thailand.

Irrende Experten

Man kann es sich kaum noch vorstellen, aber damals lassen sich die Infektionsfälle händisch nachzählen. China meldet bis 22. Januar knapp 300 Infektionen und sechs Todesfälle. In der US-Stadt Seattle gibt es einen Erkrankten, genau wie in Taiwan, Thailand, Japan und Südkorea. Europa scheint noch nicht betroffen. In China werden sie aber langsam nervös, auch die Weltgesundheitsorganisation WHO wird tätig. Kurz: Man kommt nicht drum herum. Wir widmen dem Thema Ende Januar 2020 eine Blickpunkt-Seite – und sind froh, als die Experten Entwarnung geben. Wir haben einen Ausriss der Seite noch mal groß abgedruckt, damit Sie, liebe Leser, nachlesen können, was man damals wusste. Es war nicht viel.

„Die Gefahr für Bayern ist sehr gering“, sagt etwa der Münchner Infektiologe Clemens Wendtner im Interview auf der gleichen Seite. Es handele sich um ein „lokales Problem“. Und da die Sterblichkeit eher gering sei, sehe er „keinen neuen Killervirus aus Asien“. Im Nachhinein wirkt das einigermaßen schräg – es ist damals aber die gängige Meinung. Auch das Robert-Koch-Institut stuft das Risiko für Deutschland als „sehr gering“ ein.

Das wirkt offenbar entspannend – auch auf Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Er ruft wenig später zu „wachsamer Gelassenheit“ auf und vergleicht das Coronavirus mit der saisonalen Grippe, die jedes Jahr tausende Tote fordere. „Für übertriebene Sorge gibt es keinen Grund“, sagt er. Gerade sind die ersten Corona-Infektionen in Deutschland bekannt geworden – ausgerechnet in Bayern, bei der Firma Webasto in Stockdorf im Kreis Starnberg. Aber die Sache ist im Griff. Auch unsere Zeitung kommentiert, es bestehe „noch kein Grund zur Panik“.

Ein Anruf in Wuhan

Ende Januar spitzt sich die Lage in Wuhan zu, Chinas Behörden riegeln die Stadt komplett ab. Und mittendrin sitzt die 36-jährige Silja Zhang, Radiologin aus München. Sie lebt seit fast zehn Jahren in der Millionenstadt. Im Laufe der Krise rufen wir sie mehrmals an. Ende Januar berichtet sie von der gespenstischen Ruhe in einer sonst wuseligen Metropole. „Als die Stadt zugemacht wurde, war das für die Menschen hier beängstigend“, sagt sie. Es ist ein kurzer Blick hinter die Kulissen einer verschlossenen Stadt.

Armes Schuppentier

Ach, das Pangolin, es hat nun wirklich kein leichtes Leben. Nicht nur, dass das Schuppentier in China als Delikatesse gilt und das meistgehandelte Wildtier der Welt ist. Jetzt soll es auch noch an der Pandemie schuld sein. Auf der Suche nach der Quelle des Coronavirus haben Forscher das Tier Mitte Februar als Zwischenwirt ausgemacht. Die Gensequenz von Viren, die beim Pangolin auftreten, sind mit denen des Coronavirus identisch. Aber: Das Pangolin ist nicht alleine Schuld an der Zoonose, dem Übersprung der Krankheit vom Tier auf den Menschen. Vermutlich, meinen die Forscher, steckte sich das Pangolin seinerseits an – bei einer Fledermaus.

Zögernder Söder

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ist im Laufe der Krise zur Inkarnation des Mahners geworden: Ein Mann mit harter Gangart und ernstem Gesicht, an dessen Frisur man zuverlässig ablesen kann, ob gerade Lockdown ist oder nicht. Zu Beginn aber zögert er eine Weile. Es braucht ein paar Anstöße, um seinen Krisenmodus in Gang zu setzen. Anfang März schaltet Bayerns Ministerpräsident jedenfalls um. Im Interview mit unserer Zeitung sagt er, er sei „besorgt und wachsam“, denn: „Corona als globales Phänomen könnte ähnlich wirken wie die Finanzkrise.“ Zu Beginn des Gesprächs verzichtet Söder übrigens auf den Händedruck – beim Abschied nach anderthalb Stunden Gespräch gibt man sich dann aber doch die Hand. Aus alter Gewohnheit.

Markus Söder nimmt immer mehr Fahrt auf. Wenig später verbietet Bayern Großereignisse mit über 1000 Gästen – vorerst bis Ostern. Am 20. März, dem Tag vor Frühlingsbeginn, zieht der Ministerpräsident dann ein scharfes Schwert und verhängt eine flächendeckende Ausgangssperre. Er kann es selbst nicht ganz fassen. Bei der Pressekonferenz betont Söder: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich als Ministerpräsident eine solche Maßnahme würde treffen müssen.“ Es ist die finale Geburtsstunde der „bayerischen Vorsicht“. Das Gegenmodell exerziert ein gewisser Armin Laschet (CDU) in Nordrhein-Westfalen. Zwischen den beiden Regierungschefs entsteht eine oft bestrittene, aber gut sehbare Konkurrenz um die beste Corona-Strategie – süffisante Spitzen beider Seiten inklusive.

Vorbild Österreich

Auch unter dem Eindruck dessen, was Corona in Norditalien anrichtet, ist das Nachbarland Österreich im Frühjahr 2020 ein Vorreiter bei den Schutzmaßnahmen. Was Wien beschließt, ist Vorbild für München und Berlin. Deswegen wird man hier gleich hellhörig, als Österreich Ende März eine Maskenpflicht beim Einkaufen einführt. In Bayern gibt es zu diesem Zeitpunkt rund 14 500 Infektionsfälle und Markus Söder sagt: „Uns beschäftigt der Gedanke auch.“ Er schließe so eine Maskenpflicht auch für Bayern nicht aus. Sinn und Unsinn so einer Maßnahme werden bundesweit kontrovers diskutiert, während die Menschen daheim ihre Nähmaschinen entstauben. Okay, denken viele, ein paar Wochen lang einfache Stoffmasken tragen – kein Problem. Dass ein Jahr später FFP2-Masken zum Alltag gehören würden, hätte damals niemand geglaubt.

Auch nicht, dass die Worte Lockdown, Sieben-Tage-Inzidenz, Reproduktionszahl, Antigen-Schnelltest und Virus-Mutation plötzlich zum allgemeinen Wortschatz aller Deutschen werden. Das Virus hat sich verändert – die Angst vor neuen, noch gefährlicheren Varianten dominiert gerrade die Debatte. Aber das Virus hat auch uns verändert. Ende Februar 2020 gab es 30 offiziell erfasste Corona-Fälle in ganz Deutschland. Heute können viele von uns 30 Fälle in ihrem Familien- und Bekanntenkreis aufzählen. Spurlos, das Wort ist rasend gealtert, geht schon lange nichts mehr vorbei.

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