Das Leiden der Kinder im Lockdown

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

München – Der Satz fällt ganz beiläufig, während dem Spielen. „Papa hat mich heute beim Frühstück geschlagen“, sagt das kleine Mädchen. Sie ist noch keine drei Jahre alt. Lea Erhard hat damit gerechnet, dass während des Lockdowns in vielen Familien Situationen eskalieren – und trotzdem ist die 25-jährige Erzieherin nicht wirklich vorbereitet auf diesen Moment. „Solche Augenblicke vergisst man nicht mehr“, sagt sie. Das kleine Mädchen war nicht das einzige Kind in ihrer Augsburger Kita-Gruppe, das nach dem ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr von Schlägen berichtete. Oder an Puppen Ohrfeigen nachstellte. Ein Kind erzählte einer Erzieherin sogar von einem sexuellen Missbrauch. In zwei Fällen wurden die Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen, berichtet Erhard. Sie machte damals eine Weiterbildung zur Kinderschutzfachkraft. Weil sie besser vorbereitet sein wollte auf solche Situationen. „Vor allem wollte ich gezielter helfen können“, sagt sie.

Heute ist sie um diese Ausbildung noch dankbarer. Denn der zweite Lockdown sei für die meisten Familien eine noch größere Belastung, erklärt sie. „Alle Restreserven sind aufgebraucht.“ Sie und ihre Kolleginnen haben in den vergangenen Monaten versucht, die Familien so gut es ging aus der Ferne zu unterstützen. Mit Telefonaten, Youtube-Videos mit Kita-Liedern, sie haben Briefe geschrieben und sogar einen Instagram-Account erstellt. „Es gab viele positive Rückmeldungen – aber auch Familien, zu denen wir monatelang keinen Kontakt mehr hatten“, berichtet sie.

Schon am ersten Kita-Tag, diesen Montag, merkte sie, dass die Entwicklungsrückschritte bei einigen Kindern enorm sind. „Sie haben kaum noch gesprochen, sind weinerlich.“ Andere können auf einmal perfekt Tablets bedienen – selbst im Kita-Alter. „Der Medienkonsum hat in einigen Familien unfassbar zugenommen.“ Ob es auch zu Fällen häuslicher Gewalt gekommen ist, kann Erhard noch nicht sagen – aber auch nicht ausschließen. „Wir müssen jetzt sehr genau hinsehen, genau zuhören und den Kindern das Gefühl geben, dass sie uns alles anvertrauen können“, betont sie.

Nicht nur die Erzieher sorgen sich seit Beginn des zweiten Lockdowns um das Kindeswohl. Auch der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Christoph Treubel spürt, dass die Belastung in vielen Familien jetzt noch viel größer ist als vergangenes Frühjahr. Auch das Eltern-Kind-Verhältnis habe sich verändert. „Die gemeinsame Zeit wird durch die zusätzliche Belastung mit Homeschooling und Kinderbetreuung als weniger wertvoll empfunden“, erklärt Treubel. Ähnlich wie nach sechswöchigen Sommerferien, wenn sich alle wieder auf kleine Pausen von einander freuen. „Besonders kleinen Kindern kommt es nun aber so vor, als würde sich die Situation nie wieder ändern.“ Er spürt nicht nur in seinen Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen, dass die Nerven oft blank liegen. „Bei mir rufen auch schon mal völlig aufgelöst Eltern von Patienten an, die berichten, dass ein Streit beim Homeschooling eskaliert sei und sie ihr Kind an den Haaren gezogen oder geschüttelt hätten“, berichtet er. In allen Gesellschaftsschichten könne es zu solchen Vorfällen kommen, sagt er. „Viele Eltern kommen mittlerweile einfach an ihre Grenzen.“

Offizielle Zahlen zu den Inobhutnahmen der Jugendämter während der Pandemie gibt es noch nicht. Das Familienministerium ist seit einem Jahr in engem Austausch mit der Jugendhilfe. Nach Einschätzung der Praxis gebe es bisher zwar keine Hinweise auf einen bayernweiten zahlenmäßigen Anstieg an Kindeswohlgefährdungen, sagte ein Ministeriumssprecher. Der Unterstützungsbedarf sei aber stark gestiegen. Auch viele Hilfsorganisationen sind in großer Sorge um das Kindeswohl. „Gerade die Jüngsten in unserer Gesellschaft leiden unter den Lockdown-Maßnahmen sehr“, sagt die BRK-Vizepräsidentin Brigitte Meyer. „Schon jetzt sind die Schäden unermesslich.“ Kinder und Familien dürften mit der Aufarbeitung nicht alleingelassen werden.

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