Ehemalige Ordensfrau wirft Benedikt XVI. Vertuschung vor

von Redaktion

München – Welche Rolle spielte Joseph Ratzinger bei der Vertuschung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche? Der Regisseur Christoph Röhl, der den Dokumentarfilm „Verteidiger des Glaubens“ gedreht hat, und die ehemalige Nonne Doris Reisinger sind dieser Frage für ihr Buch „Nur die Wahrheit rettet“ nachgegangen. Sie zeichnen dabei kein schönes Bild von Papst Benedikt XVI. und seiner Kirche.

Sie haben mit Christoph Röhl schon für seinen Film „Verteidiger des Glaubens“ zusammengearbeitet. Warum schicken Sie dieses Buch hinterher?

Es gab so viel Stoff, der in dem Film keinen Platz hatte. Als der Film dann kritisiert worden ist, lag es nahe, die These des Films mit zusätzlichem Stoff zu untermauern. Natürlich kann auch das Buch nicht allem bis ins Detail nachgehen, weil es einfach so viel ist. Wir haben es hier schließlich mit jemandem zu tun, der drei Jahrzehnte lang in Spitzenpositionen in der katholischen Kirche war.

Der Film hat heftige Reaktionen von Benedikt-Anhängern ausgelöst. Woher kommen die Emotionen?

Es ist gar keine Frage, dass es eine ganz starke Anhängerschaft gibt, die diesen Mann verehrt und glorifiziert und unter allen Umständen am Mythos Benedikt festhalten will. Es fällt mir persönlich auch gar nicht leicht, diesen Mythos anzugreifen und zu zerpflücken. Aber wir sprechen hier über jemanden, der massiv Versäumnisse angehäuft hat. Ratzinger trägt nicht nur als Einzelfigur Schuld. Er ist auch Symptom eines Phänomens. Es sagt etwas über die katholische Kirche aus, wenn jemand wie er in eine solche Leitungsfunktion kommt, jemand mit mangelnder Menschenkenntnis, einem hoch idealistischen Kirchenbild und Konfliktscheue, der gar nicht in der Lage ist, gewisse Dinge realpolitisch und nüchtern zu betrachten. Vielleicht ist sein größtes Versäumnis, dass er selbst diese Verantwortung angenommen hat und nicht gesagt hat: Lasst mich lieber Professor sein und Bücher schreiben.

Gehen Sie davon aus, dass auch in Ratzingers Zeit als Erzbischof von München und Freising Missbrauchsfälle vertuscht wurden?

Einiges deutet darauf hin. Erstens war es in den 1970er-Jahren nachgewiesenermaßen üblich, dass Bischöfe Missbrauchsfälle vertuscht haben. Zweitens wäre es sehr überraschend, wenn es ausgerechnet im Erzbistum München damals keine Fälle gegeben haben sollte. Und drittens wissen wir aus dem Bericht, den das Erzbistum gemeinsam mit der Kanzlei Westphal vorgelegt hat, dass die Aktenführung in München katastrophal war: Akten verschwanden, landeten in Privatwohnungen und wer wollte, konnte missliebige Einträge entfernen. Es würde mich also alles andere als überraschen, wenn Ratzinger auch als Erzbischof von München Missbrauchsfälle vertuscht hat.

Sie schildern im Buch auch den 2010 bekannt gewordenen Fall des Priesters H., der nach Missbrauchsvorwürfen von Essen ins Erzbistum München und Freising versetzt wurde und dort selbst nach einer Verurteilung eines Gerichtes weiter in der Arbeit mit Jugendlichen eingesetzt wurde. Kein Einzelfall, oder?

Ich halte den Fall H. für geradezu exemplarisch. Er passt zu einem Handlungsmuster, das sich weltweit im kirchlichen Umgang mit Missbrauchsfällen zeigt: Zunächst nimmt man Fälle lange überhaupt nicht zur Kenntnis. Erst wenn Betroffene mit Anwälten auf der Matte stehen und die Medien Wind von der Sache bekommen, gibt es eine kirchliche Reaktion, die aber oft eher wie eine PR-Maßnahme wirkt. Auch Ratzinger hat Fälle jahrelang liegen lassen. Als er 1982 Präfekt der Glaubenskongregation wurde, erbte er einen unbearbeiteten Missbrauchsfall von seinem Vorgänger. Aber den ließ er noch Jahre liegen. Stattdessen kümmerte er sich zuerst um die Frage, ob glutenfreie Hostien konsekriert werden dürfen. Das heißt: Anderes scheint wichtiger als die Sorge um Gewalt gegen Kinder in der Kirche. Das ist bis heute so. Die Kirche versucht immer noch, so wenig wie möglich zu tun. Nur ein kleiner Prozentsatz der mutmaßlichen Täter wird laisiert und statt echter Empathie für die Opfer gibt es PR-taugliche Phrasen und eine Pseudo-Seelsorgehaltung.

In den vergangenen Jahren hat die katholische Kirche sich in Deutschland immer wieder mit dem Missbrauchsskandal befasst. Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels?

Nein. Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels. Es ist wirklich hoffnungslos, wenn man den Blick auf kirchliche Verantwortungsträger lenkt. Wenn ich irgendwo Hoffnung sehe, dann bei den Menschen, die keine Angst mehr haben, innerhalb oder außerhalb der Institution für Aufklärung und einen selbstbestimmten, menschenfreundlichen Glauben einzutreten. Von der Institution selbst sehe ich nur wenig Mutmachendes.“

Interview: Britta Schultejans

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